Das Damoklesschwert
Horst Liebig
Über Desertion und Verrat in den Grenzschutzorganen der DDR
Für Mitglieder und Sympathisanten
Statt eines Vorwortes
Als der ältere Dionys, Tyrann von Sirakus ( 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung), von seinem Höfling Damokles
ob seines Glückes überschwänglich gepriesen wurde, lud ihn der Tyrann zu einem köstlichen Mahle. Über den Sitz
des Gastes hing ein scharfes Schwert, das an der Decke mit einem Pferdehaar befestigt war und somit jeden
Augenblick herabfallen und den darunter Sitzenden töten konnte. So wollte Dyonys die Unzuverlässigkeit des
von Damokles gepriesenen Glückes bezeichnen.
So wurde das Damoklesschwert zum Sinnbild einer ständig schwebenden Gefahr.
Seit Beginn der Existenz von Grenzsicherungsorganen der sowjetischen Besatzungszone und dann der Deutschen
Demokratischen Republik - sei es nun Grenzpolizei, Deutsche Grenzpolizei, Grenztruppen der Nationalen Volksarmee
oder schließlich der Grenztruppen der DDR - waren diese Einheiten und Truppenteile stets und ständig mit der
realen Gefahr der Desertion und des Verrates konfrontiert.
Es gab seit dem Jahre 1946 schon immer Angehörige dieser Organe, die aus unterschiedlichen Motiven heraus, die
Seiten wechselten.
Im Folgenden einige Fakten und Gedanken zu Desertionen, Fahnenfluchten und dem damit einhergehendem Verrat.
Auch der Autor dieser Schrift hatte im Verlaufe seiner zweiunddreißigjährigen Dienstzeit an der Staatsgrenze mit solchen
"schweren Vorkommnissen" und Verbrechen zu tun.
Viele ehemalige Grenzsoldaten - vor allem aber die Berufssoldaten - hatten in ihren Einheiten mit solch unliebsamen
und unrühmlichen Ereignissen zu kämpfen und manche bitteren und auch schmerzvollen Erinnerungen sind damit
für sie verbunden.
In der heutigen Zeit wird von maßgeblicher Seite des Staates, gewisser politischer Kräfte besonders der Massenmedien
alles getan, um die DDR, vor allem ihre Schutz- und Sicherheitsorgane zu verunglimpfen, zu verketzern und letztlich zu
delegitimieren. Auch die Gilde der Historiker ist davon nicht ausgenommen. Neben sachlichen, wissenschaftlich fundierten
Untersuchungen melden sich aber auch immer wieder selbst ernannte "Fachleute" zu Wortund spinnen an Mythen und
Legenden die mit dem wahrhaft historischen Verlauf der Geschichte und Ereignisse wenig oder auch gar nichts zu tun haben.
Noch lebende Zeitzeugen kommen nicht zu Worte, werden diskriminiert oder ignoriert. Diese "Fachleute" maßen sich die
alleinige Deutungshoheit an und befleißigen sich in einer oftmals unerträglichen "Besserwisserei" die "Zeichen der Zeit"
zu bedienen. Will man heute in der Fachliteratur oder im Internet etwas zu diesem Thema erfahren, so ist man bass
erstaunt, wie weit sich die Legenden von den historischen Tatsachen entfernt haben. Sie bestehen vielfach aus
Behauptungen, Vorstellungen und Vermutungen einschließlich Verfälschungen und auch Lügen.
Heutzutage ist man sogar schon so weit, Behauptungen überhaupt nicht mehr beweisen zu müssen. Es herrscht die
zweifelhafte Praxis in diesen Fragen Mehrheitsentscheidungen von Möchtegern-Historikern und Schreiberlingen als
Beweis für deren Richtigkeit zu deklarieren. Jeder Fachmann weiß, dass dieses einfach unzulässig ist.
Zu keiner Zeit war die Meinung der Mehrheit ein Beweis für die Richtigkeit einer Aussage.
Aus den heutigen dominierenden Medien, aus Filmen, schriftlichen Darstellungen und auch dem Schulunterricht sind
die Themen, "DDR-Diktatur", "Ministerium für Staatssicherheit", "DDR-Grenzregime, Schießbefehl und Mauerschützen"
nicht wegzudenken.
Obwohl es die DDR seit über achtzehn Jahren nicht mehr gibt, dienen die Legenden ihrer Verunglimpfung.
Eine wissenschaftliche Diskussion, in der der konkrethistorische Zusammenhang erschlossen wird und die politische
und historische Motivation der DDR eine gerechte Bewertung erfahren kann, ist nahezu unmöglich.
Entweder es wird geklittert, verfälscht und gelogen oder es wird einfach das tatsächliche Geschehen verschwiegen,
die Insider mundtot gemacht und ihnen das Recht auf Meinungsfreiheit verweigert. Die Legenden sind heute ein
Politikum, das mit politischen und administrativen Methoden vermittelt und durchgesetzt wird.
Dagegen anzukämpfen ist unserer Pflicht, auch wenn es scheint, wir seien Rufer in der Wüste.
Eigenes Erleben
Im Herbst 1950, ich war erst einige Wochen an der Grenze zu Westberlin als Grenzpolizist tätig, geschah etwas für
mich Unerwartetes und Unfassbares.
Im Grenzkommando Stahnsdorf, Grenzpolizeibereitschaft Teltow, versah ich meinen Dienst als
Volkspolizeioberwachtmeister und neubestallter Gruppenführer.
Eines Tages erhielten wir nachmittags über den BASA-Anschluss des S-Bahnhofes Dreilinden einen telefonischen Anruf
der Kontrollstreife.
Am US-amerikanischen Kontrollpunkt Dreilinden waren drei Grenzpolizisten unseres Kommandos unter Mitnahme ihrer
Waffen und Ausrüstung in den amerikanischen Sektor von Westberlin geflüchtet. Ein Westberliner Polizist der Stupo -
so nannten wir die westberliner Polizei nach dem Polizeipräsidenten Stumm - rief unserer Kontrollstreife noch zu,
"eure Kameraden sind bei uns im Westen gut angekommen und genießen die Freiheit der Freien Welt".
Erst vor wenigen Tagen im Grenzkommando als Parteisekretär gewählt, brach erst einmal eine Welt für mich zusammen.
Die drei geflüchteten Grenzpolizisten bewegten sich hier bei uns im Dienst und ihrer Freizeit völlig unauffällig.
Was bewog sie zu diesem Schritt? Warum meldeten sie sich zum Dienst in der Grenzpolizei, wenn sie doch auf die
andere Seite der Barrikade wollten?
Wenn ihnen der Grenzdienst nicht gefiel, gab es doch andere Wege, rechtlich einwandfreie Wege, ihr Dienstverhältnis
zu beenden.
Waren es die vollen Schaufenster im Westen oder war es der Mangel an Waren, die Nöte und Missstände hier bei uns
im Osten, in der DDR?
Fragen über Fragen stürmten auf mich ein. Die Kameraden der Dienststelle kamen zum Parteisekretär und wollten
Genaueres wissen.
Ich aber wusste auch keine Antworten. Mit Floskeln oder politischen Plattheiten wollte ich sie nicht abspeisen.
Ich schwieg. Eines stand für mich fest: es war Verrat, hundsgemeiner Verrat. Sie hatten dem Staat ihr Wort gegeben
und eine Verpflichtung unterschrieben, treu zu dienen und das Volk und den Staat zu schützen.
Warum galt ihr Wort nicht mehr? Diese harte Konfrontation mit dem Verrat war für mich neu.
Natürlich hatte ich im Krieg von Deserteuren gehört. Für mich waren sie damals erst einmal "Feiglinge", die sich aus
verschiedenen Motiven heraus, bewusst ihrer "vaterländischen Pflicht" entziehen wollten. Später, nach dem Krieg - i
ch war im Oktober 1945 Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands geworden und dann in der SED -
hörte ich es anders.
Soldaten desertierten, um nicht am verbrecherischen Krieg der deutschen Faschisten teilzunehmen. Sie wechselten
die Seiten.
Einige kämpften in der Roten Armee, waren im Nationalkomitee Freies Deutschland tätig oder unterstützten die
Partisanen in verschiedenen Ländern. Das waren auch Deserteure.
Diesem Handeln lagen ehrenhafte Motive zu Grunde. Es war und es ist schon ein bedeutender Unterschied, aus welcher
Armee man desertierte. Und nun nannten wir die geflüchteten Grenzpolizisten ebenfalls Deserteure. Wie ging das denn
zusammen? Lange beschäftigten mich diese Fragen.
Am nächsten Tag nach der Desertion tauchten die Drei in Zivil an der Grenze auf. Sie riefen dem diensttuenden
Grenzposten zu: " Uns geht es gut. Wir haben tolle Klamotten, amerikanische Zigaretten und jede Menge Schokolade.
Und wir sind frei. Keine Partei, keine FDJ mehr! Wir können machen, was wir wollen. Grüßt den Langen, den `PK`.
Er kann sich seine politischen Losungen an den Hut stecken oder noch besser, den A... damit abwischen."
(Mit PK war der Stellvertreter des Kommandoleiters für Politik und Kultur gemeint)
Neben den Deserteuren standen Westberliner Zöllner und grinsten. Sie riefen: " Kameraden, kommt ebenfalls rüber!"
Sie hatten Fotos von nackten Frauen in der Hand und winkten damit.
Als der Grenzposten auf diese Provokation nicht reagierte, sich umwand und seines Weges ging, riefen die Zöllner
wutentbrannt hinter ihm her." Russenknechte, Kommunistenschweine. Sucht euch schon mal den Ast aus, an dem ihr
hängen werdet."
Als mir davon berichtet wurde, wurde mir einiges klar. Dieses Auftreten der geflüchteten Grenzpolizisten war arrangiert.
Der Verrat hatte sie bereits einen Tag später nach ihrer schmählichen Tat zum willenlosen Werkzeug degradiert.
Drei Jahre später, ich war als Stellvertreter für politische Arbeit auf dem KPP, dem Kontrollpassierpunkt Rangsdorf,
Grenzpolizeibereitschaft Blankenfelde eingesetzt, wurde ich erneut mit einer Desertion konfrontiert.
Wir hatten den Auftrag, den S-Bahnverkehr nach Berlin und den Fernverkehr in Richtung Dresden zu kontrollieren.
Dazu besetzten wir die S-Bahnhöfe Rangsdorf, Dahlewitz, Blankenfelde und Mahlow mit Kontrollposten.
Mahlow war die letzte Station in der DDR. Dann fuhr die S-Bahn nach Westberlin. Den Fernverkehr kontrollierten wir
in Rangsdorf.
Unter unserem Personalbestand befanden sich zwei Gefreite. Ihren Dienst machten sie recht und schlecht,
schäkerten öfters mit jungen Mädchen und vernachlässigten ihre Kontrolltätigkeit. Im Ausgang tranken sie oft einen
über den Durst, randalierten in den Gaststätten und waren auch in Prügeleien verwickelt. Mit ihrer Disziplin war es
schlecht bestellt. Sie sorgten für Unruhe und Unordnung in der Dienststelle.
Viele Aussprachen mit den beiden brachten keine positiven Ergebnisse. Mir fiel auf, dass ich die beiden viel mit
dem VO - dem für uns zuständigen Verbindungsoffizier des MfS, Leutnant B. - in Gaststätten im vertrauten Gespräch
antraf.
Bei einem dienstlichen Gespräch mit dem VO, dem KPP-Leiter und mir, kamen wir auch auf das Verhalten der zwei
Gefreiten zu sprechen. Ich forderte den VO auf, unseren Vorschlag die beiden Genossen aus disziplinaren Gründen
zu entlassen, zu unterstützen. Der VO lachte nur und sagte, wir sollten sie erziehen, dazu wären wir ja schließlich da,
sprach`s und verschwand.
Meine Frage, ob die beiden seine Leute seien, beantwortete er nicht. Ich sah sie auch nicht mehr in den Gaststätten
zusammensitzen.
Dann kam die Meldung vom Bahnhof Mahlow, die Gefreiten N. und S. sind mit einer S-Bahn nach Westberlin geflohen.
An Stelle der bei Desertionen üblichen Prozedur, in der Dienststelle alles auf den Kopf stellen, hochnotpeinliches
Befragen aller Grenzpolizisten, verbissene Suche nach dem Schuldigen und letztlich Bestrafung der Verantwortlichen,
geschah in diesem Falle nichts.
Nur der VO erschien im KPP. Auf unsere Frage, warum keine sonst übliche Untersuchung statt fand, lächelte
Leutnant B. nur und sagte, " das wurde oben entschieden". Es lag also auf der Hand, sie handelten gewiss im
Auftrage vom MfS.
Als ehemalige Grenzpolizisten und Deserteure hatten sie sicher gute Startpositionen in Westberlin oder in der BRD,
als IM oder gar Aufklärer zu arbeiten.
Desertion - Fahnenflucht - Verrat
Schon Julius Cäsar, römischer Staatsmann, berühmter Feldherr und mächtiger Diktator sagte."Ich liebe den Verrat,
hasse aber den Verräter!"
Schauen wir im "Militärlexikon", herausgegeben 1971 in der DDR, unter dem Stichwort Desertion nach, da steht:
siehe Fahnenflucht. Unter "Fahnenflucht" (Desertion) liest man: "Eigenmächtiges Verlassen oder Fernbleiben einer
Militärperson von ihrer Truppe, ihrer Dienststelle oder einem anderen für sie bestimmten Aufenthaltsort, um sich
dem Militärdienst für ständig zu entziehen. ...
In bewaffneten Kräften, die um die nationale Befreiung kämpfen, und in Armeen sozialistischer Staaten ist die
Fahnenflucht Verrat an den Interessen der Werktätigen, am Frieden und am gesellschaftlichen Fortschritt.
Bricht ein Angehöriger einer sozialistischen Armee durch Fahnenflucht den Fahneneid, trifft ihn als Verräter die
Härte des Gesetzes und die moralische Verurteilung des ganzen Volkes."
In anderen Lexika und Nachschlagwerken, wie Synonymwörterbuch, Duden und Duden-Fremdwörterbuch wird
Deserteur (aus dem Französischen) und Fahnenflüchtiger gleichgesetzt. Man findet aber auch "Überläufer" oder
"Abtrünniger".
In den ersten Jahren des Bestehens von Grenzschutzorganen im Osten Deutschlands lagen der Tätigkeit an der
Grenze Dienstverpflichtungen von drei Jahren zu Grunde. Genau besehen war es eine Art Arbeitsvertrag, speziell
auf die Bedingungen des Polizei- und Grenzdienstes zugeschnitten. Dieses Schriftstück oder auch Dokument wurde
von dem Dienstleistenden und einem Vertreter der Volkspolizeibehörde unterschrieben.
Besonders wurde in dem Papier unter anderem auf die Einhaltung der Disziplin, die Verantwortung für den Schutz
und die Sicherheit des Staates und der Bevölkerung sowie der Wahrung von Dienstgeheimnissen hingewiesen.
Mit seiner Unterschrift verpflichtete sich der Grenzpolizist zur Einhaltung all dieser Bestimmungen.
Um einen flüchtigen Grenzpolizisten juristisch zu belangen reichte meist diese "Verpflichtung" oder auch der
"Vertrag" nicht aus. Deshalb wurden festgenommene Deserteure auch wegen Geheimnisverrat oder Spionage
zur Rechenschaft gezogen.
Am 16. Januar 1958 wurde die Verpflichtung für den Dienst in der Deutschen Grenzpolizei, auf der Grundlage
eines Befehles des Ministers des Inneren der DDR und die Dienstlaufbahnbestimmungen in Kraft gesetzt.
Gleichzeitig wurde die eidesstattliche Verpflichtung eingeführt. Diese hatte folgenden Wortlaut:
"EIDESSTATTLICHE VERPFLICHTUNG"
Ich verpflichte mich in der Erkenntnis, dass die Deutsche Grenzpolizei in der Deutschen Demokratischen Republik
dazu berufen ist, die Interessen der deutschen Werktätigen vor faschistischen, reaktionären und anderen feindlichen
und verbrecherischen Elementen zu schützen, dass sie darüber hinaus ein zuverlässiges Bollwerk der demokratischen
Entwicklung sowohl in der Deutschen Demokratischen Republik als auch im Kampf um ein einheitliches,
demokratisches Deutschland darstellt, an Eides statt der werktätigen Bevölkerung ergeben zu sein, die ehrenvollen
Pflichten eines Angehörigen der Deutschen Grenzpolizei ehrlich zu erfüllen, entsprechend der demokratischen
Gesetzlichkeit die öffentliche Ordnung, die Rechte der Bürger, ihr persönliches und das Volkseigentum zu schützen.
Ich gelobe mich diszipliniert zu betragen, die dienstlichen Befehle und Verfügungen genau zu erfüllen, mich in dem
von mir übernommenen Dienst zu vervollkommnen und über alle mir bekannt werdenden Angelegenheiten, deren
Geheimhaltung durch Gesetz oder dienstliche Anordnung vorgeschrieben oder ihrer Natur nach erforderlich ist,
strengste Verschwiegenheit gegen jedermann zu wahren.
Ich gelobe mich in der Tat des großen Vertrauens würdig zu erweisen, in der Deutschen Grenzpolizei dienen und
eine Waffe tragen zu dürfen.
Ich bin mir bewusst, dass eine Verletzung dieser eingegangenen Verpflichtung eine strenge Bestrafung zur Folge hat.
Ich verpflichte mich, vom Tage der Unterzeichnung dieser Verpflichtung ab in der Deutschen Grenzpolizei nicht weniger
als drei Jahre zu dienen."
Einmal davon abgesehen, dass diese eidesstattliche Verpflichtung sprachlich etwas schwülstig formuliert war und
weitaus hätte kürzer sein können, war sie ein brauchbares Dokument zur Führung der Deutschen Grenzpolizei in
damaliger Zeit. Diese Verpflichtung, hatte wohl eher eine politisch-moralische als eine juristische Bedeutung. Inwieweit
sie bei Gerichtsverfahren gegen Deserteure die Grundlage für Anträge der Staatsanwaltschaft und schließlich der
Urteilsfindung diente, ist dem Autor nicht bekannt.
Mit dem Beschluss der Volkskammer wurde bereits am 26.September 1955 in Ergänzung des Artikels 5 der Verfassung
der DDR für den Wehrdienst neue gesetzliche Grundlagen geschaffen. Der Dienst in den Streitkräften zum Schutze des
Vaterlandes und der Errungenschaften der Werktätigen wurde zur ehrenvollen nationalen Pflicht der Bürger der
DDR erklärt.
Dem folgte am 18. Januar 1956 das Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für
Nationale Verteidigung. Am 1. März 1956 nahmen Führungsorgane der NVA ihre Tätigkeit auf.
Die 1. mot.-Schützendivision wurde gebildet.
Am 12. April 1956 beschloss der Ministerrat der DDR die Einführung des Fahneneides und Truppenfahnen in der NVA.
In der Deutschen Grenzpolizei, die schon Fahnen hatte - der traditionelle Begriff Truppenfahne wurde noch nicht
verwandt - blieb es bei der "eidesstattlichen Verpflichtung". Diese Verpflichtung wurde kurze Zeit später durch den
Schwur ersetzt.
In Anlehnung an den Fahneneid der NVA - dieser übliche Begriff wurde damals noch nicht für die Deutsche Grenzpolizei
benutzt, weil er eigentlich nur für Armeeeinheiten üblich war - lautete der Schwur:
" Ich schwöre, meinem Vaterland der Deutschen Demokratischen Republik, allzeit treu zu dienen, sie auf Befehl der
Arbeiter- und Bauern - Regierung unter Einsatz meines Lebens gegen jeden Feind zu schützen, den Vorgesetzten
unbedingten Gehorsam zu leisten, immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Grenzpolizei zu wahren."
Am 13. März 1958 leisteten erstmals der Kommandeur der Deutschen Grenzpolizei und die übrigen Führungskräfte im
Kommando der Grenzpolizei diesen Schwur. Danach erfolgte dieses Zeremoniell in allen Verbänden und Truppenteilen.
Neben der Nationalen Volksarmee war damals die Deutsche Grenzpolizei das einzige bewaffnete Organ der DDR,
das in dieser feierlichen, militärischen Form verpflichtet wurde.
Mit dem Befehl 1/61 des Nationalen Verteidigungsrates der DDR wurde die Deutsche Grenzpolizei am 15. September
1961 - außer der 5. Grenzbrigade - als "Grenztruppe der NVA" dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt.
Die Grenzsoldaten leisteten dann den Fahneneid der Nationalen Volksarmee.
Ab dem 1.Oktober 1962 erhielten die Verbände und Truppenteile der Grenztruppen der NVA neue Truppenfahnen.
Die alten Fahnen wurden dem Armeemuseum in Dresden übergeben.
Am 24. Januar 1962 beschloss die Volkskammer der DDR das Gesetz über die allgemeine Wehrpflicht,
das Wehrpflichtgesetz. Spätesten seit diesem Zeitpunkt wurde für Desertion auch der Begriff Fahnenflucht benutzt.
Im Jahre 1974 erfolgte die Umbenennung der Grenztruppen der NVA in Grenztruppen der DDR.
In Anlehnung an den Fahneneid der Nationalen bekamen die Grenztruppen der DDR eine modifizierte Textfassung.
Dieser Text lautete:
Fahneneid der Grenztruppen der DDR
Ich schwöre: Der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl
der Arbeiter - und -Bauern - Regierung gegen jeden Feind zu schützen.
Ich schwöre: An der Seite der Nationalen Volksarmee sowie fest verbunden mit den Armeen und den Grenztruppen
der Sowjetunion und der anderen verbündeten sozialistischen Länder, als Soldat der Grenztruppen der Deutschen
Demokratischen Republik jederzeit bereit zu sein, standhaft und mutig, auch unter Einsatz des Lebens, die Grenzen
meines sozialistischen Vaterlandes gegen alle Feinde zuverlässig zu schützen.
Ich schwöre: Ein ehrlicher, tapferer, disziplinierter und wachsamer Soldat zu sein, den militärischen Vorgesetzten
unbedingten Gehorsam zu leisten, die Befehle mit aller Entschlossenheit zu erfüllen und die militärischen und
staatlichen Geheimnisse immer streng zu wahren.
Ich schwöre: Die militärischen Kenntnisse gewissenhaft zu erwerben, die militärischen Vorschriften zu erfüllen und
immer und überall die Ehre unserer Republik und ihrer Grenztruppen zu wahren. Sollte ich jemals diesen meinen
feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die harte Strafe der Gesetze unserer Republik und die Verachtung
des werktätigen Volkes treffen.
Im Strafgesetzbuch der DDR §254 hieß es: Fahnenflucht beging ein Militärangehöriger ( in unseren Fällen ein Grenzsoldat),
der "seine Truppe, seine Dienststelle oder einen anderen für ihn bestimmten Aufenthaltsort verlässt oder ihnen fernbleibt,
um sich dem Wehrdienst zu entziehen".
Da in Deutschland zwei deutsche Staaten existierten, ergab sich bei den Fahnenfluchten eine besondere spezielle,
politische und auch juristische Lage. Die Flüchtigen begingen in der Regel ihre Tat mit dem Vorsatz und dem Ziel,
"sich dem Wehrdienst zu entziehen" und ihren Staat, die DDR, dessen Staatsbürger sie ja waren, für immer zu
verlassen und in der BRD zu verbleiben.
Damit war der Tatbestand des "schweren Falles" für dieses Delikt gegeben. Eine Desertion oder Fahnenflucht beinhaltete
auch immer den Verrat.
War es nicht Verrat, wenn man einer Sache, der man die Treue geschworen hat, untreu wurde, sie schmählich im Stich
ließ, auf die andere Seite der Barrikade ging, die Seite wechselte, abtrünnig wurde?
Waren sich die Täter immer bewusst, wessen sie sich schuldig gemacht hatten? Was waren ihre Motive für derartiges
Tun? Waren die Ursachen für die Desertion politischer Natur, missliche gesellschaftliche Verhältnisse oder persönliche
Konflikte?
Wo lagen etwaige begünstigende Umstände für diese Verbrechen? Ja - es waren und sind schon Verbrechen, und
überall in der Welt wird Desertion und Fahnenflucht strafrechtlich verfolgt und meist mit drakonischen Strafen geahndet.
Auch in der BRD gilt sie als eine Militärstraftat.
Nahezu eine halbe Million Grenzschützer der DDR dienten in der fast 44 jährigen Existenz von Grenzschutzorganen im
Osten Deutschlands. Von 1946 bis 1990 hatten Hunderttausende, "fast eine halbe Million Bürger in den Reihen der
Deutschen Grenzpolizei und der Grenztruppen ihren Dienst verrichtet. Sie dienten als Soldaten, Unteroffiziere,
Fähnriche oder Offiziere einem souveränen, völkerrechtlich anerkannten Staat, der eine Alternative zur schrecklichen
faschistischen Vergangenheit Deutschlands war und dessen Grenze die unmittelbare Berührungs- und
Konfrontationslinie mit einem entgegengesetzten gesellschaftlichen System bildete."
So schrieb Generaloberst a.D. Klaus-Dieter Baumgarten in dem Buch, "Die Grenzen der DDR", Seite 265.
Es heisst weiter. "Die Grenzer der DDR waren Mitgestalter eines Kapitels deutscher Geschichte, auf das sie stolz sein
können. Wie wohl nie zuvor in der Geschichte war deutschen Soldaten während des Kalten Krieges die Verantwortung
übertragen, in vorderster Linie dafür Sorge zu tragen, dass Zwischenfälle und Provokationen nicht in einen heißen
Krieg mündeten.
Dem Grundsatz der Politik ihrer Regierung verpflichtet, dass nie wieder von deutschem Boden Krieg ausgehen darf,
taten sie alles dafür." In den Jahrzehnten des Bestehens des Grenzschutzes erst in der sowjetischen Besatzungszone
Deutschlands und dann später in der Deutschen Demokratischen Republik, war es den Angehörigen der
Grenzsicherungsorgane zu verdanken, dass an der Grenze Sicherheit, Ruhe und Ordnung herrschten.
Unermüdlich, diszipliniert und aufopferungsvoll versahen, Tag und Nacht und unter allen Witterungsbedingungen,
diese Bürger getreu ihrer abgegebenen Verpflichtung, ihres Gelöbnisses, ihres Schwures und des Fahneneides ihren
schweren und verantwortungsvollen Dienst an der Grenze. Das durchaus strenge Grenzregime, dem sie immer
Rechnung tragen mussten und durchzusetzen hatten, entsprach im wesentlichen dem Sicherheitsbedürfnis des
werktätigen Volkes.
Die Lehren aus der Geschichte besagten:
Grenzen - das waren und sind im Kalkül imperialistischer Kräfte und revanchistischer Kreise auch immer tausendfach
Möglichkeiten, den missliebigen Nachbarn herauszufordern, blinde Leidenschaften zu entfachen und gefährliche
Spannungen anzuheizen, geeignet, Vorwände zu liefern zur Eskalation des existierenden Kalten Krieges und letztlich
zur Entfesslung des heißen Krieges.
Die realen Gefahren die von derlei Provokationen und feindseligen Akten des Westens ausgingen, konnte und durfte
die DDR nicht außer acht lassen.
Deshalb war das Grenzregime so streng repressiv und die Staatsgrenze wurde mit den Mitteln und Methoden
zuverlässig geschützt, wie es notwendig war.
Gewiss rief das bei einigen Angehören der Grenzsicherungsorgane auch Konflikte und Zweifel hervor.
Fragen über die Rechtmäßigkeit der zu befolgenden Dienstanweisungen, Anordnungen und Befehle tauchten auf.
Um es vornweg zu nehmen, auch das waren mitunter Gründe - wie immer man das sehen will - für Verrat, das
Wechseln der Seiten, das "Rübermachen", für Desertion und Fahnenflucht.
Diese Vorkommnisse waren wahrlich kein Ruhmesblatt in der Entwicklung und Geschichte der Grenztruppen.
Ob man es nun wahrhaben will oder nicht, der Fakt bleibt: Viele wechselten die Seite, desertierten und
begingen somit Verrat.
Die Flucht von Grenzpolizisten und Grenzsoldaten war das Damoklesschwert über den Grenzsicherungskräften
der DDR.
Es soll hier versucht werden, Licht und Aufklärung in dieses dunkle Kapitel der Geschichte der Grenztruppen zu bringen.
Manch einer mag hier von Nestbeschmutzung sprechen, dem einen oder anderen wird es bitter aufstoßen, und
trotzdem stehen wir als ehemalige Angehörige der Grenztruppen in der sicher nicht leichten Pflicht, uns dieser prekären
Sache anzunehmen. Wenn nicht wir, wer denn sonst?
Die andere Seite macht das schon zur Genüge, die konkreten politisch-historischen Bedingungen bewusst außer acht
lassend, liefern sie Zerrbilder des Geschehens, betreiben Geschichtsklitterung und verbreiten Fälschungen und Lügen.
Schon in der ersten Zeitnach der Bildung der Grenzpolizei gab es Einzelfälle, dass Grenzpolizisten sich durch Flucht
ihrer dienstlichen Verpflichtung entzogen. Die Quellen über derartige Vorkommnisse sind spärlich.
Ehemalige Grenzpolizisten, die damals schon an der Grenze standen, berichten heute von einigen Fällen des Verrats.
Auch im Buch "Grenzerfahrungen" von Schätzlein, Rösch, Albert, ist unter dem Datum 01.09.1948 folgendes vermerkt:
"In den Nachmittagsstunden unternimmt ein ostzonaler Grenzpolizist R. auf einem Streifengang gegenüber von Trettau
einen Fluchtversuch. Er wird dabei von seinem Postenführer, der ein Schulkamerad des Flüchtigen war, angeschossen
und im Unterleib getroffen. Während der Postenführer seine Dienststelle verständigt, kann sich der Getroffene auf
Westgebiet schleppen..."
An anderer Stelle dieses Buches (Seite 146) sind folgende Zahlen veröffentlicht:
"Der Dienst in der DPG war formell freiwillig; die Verpflichtungszeit betrug 3 Jahre. Aber die Deutsche Grenzpolizei
verlor durch Flucht in den Westen immer wieder Leute.
Unter den bis Ende 1952 geflüchteten mehr als 8 000 Volkspolizisten der Deutschen Volkspolizei und der Kasernierten
Volkspolizei befanden sich auch Angehörige der Deutschen Grenzpolizei."
Diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen. Dazu nennen die Autoren keine Quellenangabe.
Doch es bleibt eben die Tatsache, auch Grenzpolizisten flüchteten in den Westen und begingen Verrat.
Wie war damals die Lage an der Grenze? In den ersten Jahren 1946/47 wurde der Grenzdienst in der Regel gemeinsam
von deutschen und sowjetischen Grenzposten durchgeführt. Gemischte Postenpaare waren nicht im Einsatz.
Die Stationierung der neuen deutschen Grenzpolizeiformationen erfolgte an der Demarkationslinie zu den Westzonen
und entlang der übrigen Grenzen nach Plänen der sowjetischen Besatzungsmacht.
Die Grenzpolizisten waren zumeist in Privatquartieren bei Bauern oder in Gasthöfen untergebracht.
Gemeinschaftsunterkünfte existierten nicht. Diese errichtete man später. Die Grenzpolizisten mussten sich selbst
verpflegen und bekamen die Lebensmittelkarte 2.
Von Anfang an wurde großer Wert darauf gelegt, nur zuverlässige Leute dem Grenzschutz zuzuführen.
Es waren meist Kräfte, die sich bereits auf Orts- Kreis- und Landesebene im allgemeinen Polizeidienst bewährt hatten.
Unter den Grenzpolizisten befanden sich Antifaschisten, Kommunisten und Sozialdemokraten, die den schweren
Auftrag hatten, eine zuverlässige Grenzpolizei aufzubauen. Sie waren von dem Geist beseelt, eine antifaschistisch-
demokratische Ordnung zu schaffen und zu beschützen.
Dazu kamen junge Leute mit keinerlei Erfahrungen im Polizei- geschweige denn im Grenzdienst.
Viele Umsiedler gehörten zu den ersten Grenzpolizisten und ehemalige Kriegsgefangene, die aus der Sowjetunion
kamen. Einige von ihnen waren schon in der Gefangenschaft, in Antifa-Schulen, für den Polizeidienst geworben worden.
Auch im zentralen Rückkehrlager in Frankfurt/Oder erklärten sich ehemalige Soldaten, die aus sowjetischer
Gefangenschaft kamen, zum Grenzdienst bereit.
Manch einer, der auf der Suche nach seiner Familie war, die durch die Kriegs-und Nachkriegsereignisse, wie Flucht und
Umsiedlung in alle deutschen Länder zerstreut war, fand seine erste Bleibe in den Dienststellen der Volks- bzw. -
der Grenzpolizei. Dieser Personenkreis,der an der Grenze zum Einsatz kam, war wahrlich harten und entbehrungsreichen
Belastungen ausgesetzt.
Es fehlte an Ausrüstung, Nahrungsmitteln und vernünftigen und zuverlässigen Nachrichtenverbindungen.
Nur vereinzelt waren Fahrräder vorhanden. Es gab keine Pferdegespanne, Reitpferde und Diensthunde.
Einige wenige fahrbereite Lkw, Pkw und Kräder befanden sich im Einsatz. Oft gingen die Grenzpolizisten in "Räuberzivil"
oder nur spärlich unifomiert an die Grenze. Manch einer trug nur eine Armbinde, die ihn als Amtsperson auswies.
Die Bewaffnung setzte sich aus alten ehemaligen Wehrmachtsbeständen zusammen, Karabiner und Pistolen.
Die Munition war äußerst knapp bemessen.
Zu diesen misslichen Umständen kamen die schier unlösbaren Aufgaben bei der Sicherung der Grenze.
Die Grenzpolizei hatte im wesentlichen die Aufgaben zu erfüllen, gemeinsam mit den eingesetzten sowjetischen Truppen
die Demarkationslinie zu den Westzonen und die Grenzen der sowjetischen Besatzungszone zu Polen und der CSR zu
überwachen, den grenzüberschreitenden Verkehr zu kontrollieren und illegale Grenzübertritte zu verhindern.
Die Grenzpolizisten sollten für Ruhe und Ordnung im Grenzgebiet sorgen und nach Kriegs-, Nazi- und sonstigen
Verbrechern fahnden und diese festnehmen.
Des weiteren musste die ungesetzliche, illegale Aus- und Einfuhr von Waren und anderen Wirtschaftsgütern sowie
jeglicher Schmuggel und Schwarzhandel konsequent unterbunden werden.
Die Verbringung von Industrieausrüstungen aus beschlagnahmten und bereits enteigneten Betrieben in der Ostzone
sollte auf jeden Fall verhindert werden.
Professor Wilfried Hanisch schreibt in dem Buch "Die Grenzen der DDR" auf Seite 111: "Die große Masse der 1947 in
Thüringen beim illegalen Grenzübertritt festgenommenen 165 000 Personen bildeten aber zunächst weiterhin durch
Kriegsauswirkungen aus unterschiedlichen Gründen in Bewegung gesetzte Menschen. Nicht selten waren sie auf der
Suche nach Angehörigen.
Es gab kleine Händler und Schieber, aber auch große Spekulanten, die sich an der Not und Mangelwirtschaft der
Nachkriegszeit und aufgrund der unterschiedlichen Lage in den Besatzungszonen beträchtlich bereicherten."
Auf den Seiten 121-122 nennt er konkrete Zahlen für die Menschenströme, die in damaliger Zeit die Grenze - in der
übergroßen Mehrzahl - illegal passierten: "Einen konkreten Eindruck über wesentliche Ergebnisse, Schwerpunkte, aber
auch Probleme der Grenzsicherung insgesamt in dieser Zeit vermittelt ein in den Akten enthaltener Lagebericht für die
SMAD über das erste Halbjahr 1949 im Vergleich zum zweiten 1948.
Von den in beiden Halbjahren zusammen beim illegalen Grenzübertritt Festgenommenen (dienstlich `Grenzverletzer`
genannt) wurden nach vorläufigen Ermittlungsergebnissen eingestuft: 214 als Spione und Saboteure, 2 418 als
kriminelle Verbrecher, 668 als Großschieber und 2 125 als Schmuggler... 226 333 der insgesamt im zweiten Halbjahr
1948 festgenommenen Grenzverletzer wurden an der Demarkationslinie dagegen nur etwa 900 an der Grenze zu
Polen und rund 1 800 an der Grenze zur CSR gestellt.
Im ersten Halbjahr 1949 lag der Schwerpunkt mit 256 272 zu 278 bzw. 798 noch eindeutiger an der D-Linie.
Darin widerspiegelte sich das bei allem Auf- und Ab immer gravierender Problem der Grenzsicherung: eine größere
Anzahl Personen wollte von Ost nach West die Grenze passieren.
Individuell waren die Ursachen dafür sehr unterschiedlich - sie reichten von eindeutig politischen Gründen bis zu
Versuchen, persönlichen Konflikten oder gar Konsequenzen aus Straftaten durch die Flucht in den Westen`auszuweichen.
Ein nicht unbeträchtlicher Teil scheute angesichts der in den Westzonen sich abzeichnenden Marshall-Plan-Hilfen den im
kleineren und ärmeren Osten anvisierten Weg, aus eigener Kraft allmählich zu einem besseren Leben zu kommen...
Die damaligen beträchtlichen Schwankungen in der Haltung von Menschen widerspiegeln sich auch darin, dass im Juli
und August 1949 aus unvollständigen Angaben 106 Polizeiangehörige aus der Grenzpolizei desertierten."
Die hier vom Professor Hanisch genannten Gründe für das Überwechseln von Ost nach West, trafen vielfach auch für die
desertierten Grenzpolizisten zu.
Ein ständiger Aderlass
Der Schrift "Die Flucht aus der Sowjetzone...", herausgegeben 1961 in Bonn und Berlin, vom Bundesministerium
für gesamtdeutsche Fragen,- einer Institution des Kalten Krieges, um die Konterrevolution in der DDR zu organisieren
und die Einverleibung des anderen deutschen Staates vorzubereiten - kann man entnehmen: Von 1953 bis 1959
verließen jährlich Hunderttausende die DDR in Richtung Westen.
Insgesamt waren es 1 657 278. Sie gingen über die "grüne Grenze" in die BRD und die Masse über die offene Grenze
nach Westberlin. Bis zum August 1961 hatten über 2,5 Millionen DDR-Bürger ihren Staat in Richtung Westen verlassen..
Dazu kommt die Zahl der "Zuwanderer, Übersiedler und Umsiedler" der Jahre 1945 bis 1949, rund 1 Million Menschen.
Es war eine Frage des Überlebens des ostdeutschen Staates, und kein gesellschaftliches, politisches System konnte solch
einen ständigen Aderlass auf die Dauer verkraften, geschweige denn unbeschädigt überstehen.
Diese Fluchtbewegung machte natürlich um die bewaffneten Organe der DDR keinen Bogen. Selbst aus den Reihen
derjenigen, die die Grenzen schützen und sichern sollten, gingen viele in den Westen. Immer mehr "Grenzer"
desertierten. Im Zeitraum von 1952 bis Mitte 1961 kamen 20000 Flüchtlinge aus der DDR in den Westen, die zum
Zeitpunkt ihres Grenzübertritts oder unmittelbar vorher (maximal 6 Monate) Angehörige von bewaffneten Organen
waren.
Einige Bemerkungen zu den hier angeführten Zahlen.
In der Nummer 85 der "hefte zur ddr-geschichte", herausgegeben von der Bildungseinrichtung "Helle Panke" zur
Förderung von Politik, Bildung und Kultur e. V. Berlin 2004, nennt Professor Dr. Jörg Roesler unter dem Titel
"Rübermachen, Politische Zwänge, ökonomisches Kalkül und verwandtschaftliche Bindungen als häufigste Motive der
deutsch-deutschen Wanderungen zwischen 1953 und 1961" Zahlen anderer Größenordnung.
Besonders für die oben genannten Jahre 1953 bis 1959 bestehen teilweise gravierende Unterschiede.
Das Bonner Ministerium für gesamt -deutsche Fragen nannte für 1953 die Zahl 331 390 Personen, bei Roesler waren es
ca. 250 000. Für 1956 und 1957 gab Roesler über 350 000 Personen an, dagegen waren es in Bonn für 1956
279 189 Personen und im Jahre 1957 handelte es sich um 261 622 Personen. Das Maximum lag nach Roesler im Jahr
1956 bei 364 000 Personen und das Bundesministerium gab für das Jahr 1956 die kleinere Zahl 279 189 Personen
bekannt.
Diese Unterschiede erklären sich aus den verschiedenen Quellen für diese Zahlen. Dazu kommt, dass in der BRD viele
Republikflüchtige durch die Notaufnahmelager mussten. Viele andere wiederum, die sofort Anlaufpunkte, wie Verwandte,
Bekannte und andere hatten, wurden amtlich nicht registriert.
Professor Roesler: "Die Zahlenangaben der Notaufnahmestatistik gelten sowohl hinsichtlich des Umfangs als auch der
Aufnahme- und damit Migrationsgründe als die verlässlichsten."
In der DDR wurden oft amtliche Statistiken geführt. Doch eine zentrale Zusammenfassung gab es nicht.
Auch die hier genannte Zahl der desertierten Volkspolizisten fußen auf westliche Angaben.
Doch es bleibt eben die Tatsache, Tausende entzogen sich ihrer Verpflichtung und wechselten die Seiten und übten
Verrat.
In den fünfziger Jahren hatten wohl fast alle Dienststellen der Deutschen Grenzpolizei mit Desertionen zu tun.
Eingebettet in die gewaltigen, revolutionären, gesellschaftlichen Veränderungen im Osten Deutschlands, der mitunter
auch recht dramatischen politischen Entwicklungen - Beschluss der 2. Parteikonferenz der SED 1952 "in allen Bereichen
der Gesellschaft planmäßig die Grundlagen des Sozialismus zu schaffen", die Ereignisse am 17. Juni 1953 und im
Herbst 1956, die Entfaltung des westdeutschen "Wirtschaftswunders" und die noch vorhanden "Mangelwirtschaft" in
der DDR, Rechtsverletzungen durch staatliche Behörden und politische Fehlentscheidungen der SED - vollzogen sich in
der Bevölkerung der DDR bestimmte politische, differenzierte ideologische Prozesse, die zu verschiedenen Meinungen
und Ansichten führten.
Die ständige Einflussnahme des Westens in der DDR, sei es politisch, ideologisch und ökonomisch, taten ein übriges.
Und mancher zog daraus die Schlussfolgerung, das Land zu verlassen.
Das alles wirkte natürlich auch auf die Grenzpolizisten ein, lebten sie doch nicht isoliert von diesem Geschehen.
Niederlagen und bittere Erfahrungen
Im Jahre 1954 diente ich in der Grenzkompanie Kleinmachnow/West, Grenzpolizeibereitschaft Blankenfelde.
Im Rahmen einer Strukturveränderung - die es damals häufig gab - wurde eine neue Grenzkompanie aufgestellt.
Sie existierte bereits vier Wochen. Kompaniechef war ein Oberfeldwebel, ich Politstellvertreter und Leutnant.
Die Planstelle des Stellvertreters Operativ war noch nicht besetzt. Als Hauptfeldwebel fungierte ein junger,
unerfahrener Unteroffizier.
Die Soldaten - erst wenige Wochen Angehörige der Deutschen Grenzpolizei - versahen hier ihren ersten Grenzdienst.
Als Gruppenführer mussten wir notgedrungener Maßen Soldaten einsetzen, von denen wir außer ihren Namen fast
nichts wussten.
Außer dem Kompaniechef und meiner Person hatte keiner Erfahrungen im Grenzdienst. Wir kannten die Soldaten nicht
und hatten mit Organisationsfragen jede Menge zu tun.
Von einer zielstrebigen politisch-ideologischen Arbeit konnte hier keine Rede sein. Die Parteiorganisation umfasste
vier Mitglieder.
Die FDJ-Organisation musste erst aufgebaut werden. Durch die Fülle der Aufgaben kamen wir kaum dazu, uns mit der
individuellen politischen Arbeit zu befassen. Recht und schlecht organisierten wir den täglichen Grenzdienst und
versuchten, einigermaßen über die Runden zu kommen.
Von den vorgesetzten Dienststellen, weder von der Grenzpolizeikommandantur in Teltow noch von der
Grenzpolizeibereitschaft in Blankenfelde bekamen wir Hilfe und Unterstützung.
Eines Tages, der Oberfeldwebel befand sich gerade auf Postenkontrolle, erhielt ich die Information, dass im linken
Grenzabschnitt zwei Postenpaare fehlten. Da meldete sich der Oberfeldwebel und teilte mir ebenfalls die Desertion von
vier Mann mit. Von der anderen Seite her riefen Westberliner Polizisten, "wenn ihr eure Leute sucht, die sind bei uns"
Ich setzte sofort eine Spitzenmeldung an die Grenzpolizeikommandantur Teltow ab.
Vier Mann desertiert, das war schon ein Paukenschlag. Der Kompaniechef und ich saßen beisammen, um unser
weiteres Vorgehen zu koordinieren, da kündigte uns der Diensthabende hohen Besuch an.
Das Dienstzimmer betrat Generalmajor Herrmann Gartmann, Kommandeur der Deutschen Grenzpolizei.
In seiner Begleitung der Kommandeur der Grenzbereitschaft Blankenfelde, Major Lothar Thal.
Der Kompaniechef meldete dem General das besondere Vorkommnis, während der Bereitschaftskommandeur aus dem
Zimmer verschwand.
General Gartmann hörte sich alles sehr ruhig an und kündigte eine strenge Untersuchung des Falls und eine gründliche
Kontrolle der Kompanie an.
Mittlerweile war der Major wieder zurück. Er fuhr den Oberfeldwebel barsch an, wo denn der Kompaniechef sei?
Der antwortete verdutzt, er wäre der Kompaniechef. Wieso? Nach seiner Kenntnis sei der Oberfeldwebel der
Stellvertreter Operativ. Der Bereitschaftskommandeur donnerte nun los. Was es denn hier für eine Ordnung sei?
Keine Unteroffiziere und der Hauptfeldwebel?
Wie sieht denn der Klubraum aus? Keine Gardinen, keine Sessel, nur hölzerne Hocker. Im Speiseraum nur Tische,
ohne Tischdecken. Unerhört!
Da wurde es mir zu bunt, Wut stieg in mir auf und ich unterbrach den Redeschwall des Majors und bat den General
ums Wort. Dieser hatte sich alles gelassen angehört. Dann gab er mir das Wort. Ich schilderte wahrheitsgemäß den
politischen, dienstlichen und materiellen Zustand in der Kompanie, erwähnte unsere Versuche, bei den Vorgesetzten
um Hilfe und Unterstützung zu bitten. Nie gab es eine Antwort darauf.
Der General schaute auf den Major. Stimmt das? Der druckste herum. Dazu müsste er erst seine Stellvertreter befragen.
Mit einem Ruck stand General Gartmann auf und sagte: "Genug, wir gehen!" Und schon in der Tür stehend wandte
er sich an mich: "Genosse Leutnant, einen großen Fehler hast du gemacht. Du hättest den Parteiweg gehen müssen!"
Da hatte der General wirklich recht.
Entgegen dem Üblichen, erfolgten weder Untersuchung noch Kontrolle. Auf dem kleinen Dienstweg erfuhren wir, dass der
Bereitschaftskommandeur, der Kommandanturleiter und die Politstellvertreter Disziplinarstrafen erhielten. Der Major
bekam auch noch eine Parteistrafe.
In seinem Buch "Grenzdienst im Kalten Krieg", erschienen im GNN Verlag 2001, schildert Kurt Frotscher,
Major a D, Dienst in den Grenztruppen von 1948 bis 1980, in dem Kapitel "Desertionen bis 1959 kein Tabu", Seite 76 -81,
unter anderem Folgendes:
"Erstmals berichtete `Der Grenzpolizist`(Wochenzeitung der Deutschen Grenzpolizei von 1953 bis 1961) in seiner
Nummer 11/53 über Angehörige der DGP, die in den Westen geflüchtet waren..." Zur Flucht der Gefreiten
Spangenberg und Warschulski am 17. Mai 1954 heißt es:
"Nach über fünfwöchigen Aufenthalt im Flüchtlingslager Kladow versuchte S. bei Hannover und im Schwarzwald
vergeblich Arbeit zu finden. In Bad Mergentheim bei Stuttgart soll er schließlich vier Monate lang beim Bauern täglich
bis zu dreizehn Stunden Beschäftigung gefunden haben, bevor er sich auf einen langen Fußmarsch begab und bei der
Grenzpolizei stellte...
In der Zwischenzeit hatten zwei weitere Soldaten meines Verantwortungsbereiches die Fronten gewechselt, von dem
einer gleich Spangenberg und Warschulski, es ebenfalls vorzog, für die Desertion lieber bestraft zu werden als drüben
zu bleiben..."
In der Ausgabe 30/58 schildert "Der Grenzpolizist" das Schicksal des Deserteurs Günter Lysk. Nach seiner Rückkehr aus
dem Westen "wurde der 1954 nach Westberlin Geflüchtete zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Er war zwar gleich den
meisten mit dem Ziel desertiert, ein besseres Leben zu führen und die Welt kennen zulernen, jedoch sein Weg dahin
verlief etwas anders. Es endete mit einer Tragödie.
Dem Bericht des`Grenzpolizisten`zufolge arbeitete Lysk nach dem Aufenthalt im Flüchtlingslager und den üblichen
Geheimdienstverhören in der Zeche `Pluto`in Wanne-Eickel. Fünfzig Mark Wochenlohn entsprachen nicht seinen
Vorstellungen vom `goldenen Westen`. Trotzdem wollte er `lieber hungern, als daheim bestraft zu werden`, wie er vor
Gericht aussagte.
Nunmehr zu allem bereit, sich ganz sicher der Tragweite seines Schrittes unbewusst, widerstand er den Verlockungen
eines geschickten Werbers nicht, und unterschrieb einen Fünfjahresvertrag zum Eintritt in die französische Legion
Entragere.
Als Legionär 2.Klasse mit der Nummer 116721 verlor er jegliche persönliche Identität und kam in Algerien zum Einsatz.
Es folgten Wochen brutaler militärischer Ausbildung in Maskara, und, wie er ausgesagt haben soll, seine Teilnahme
an Masakern der Legion an der algerischen Bevölkerung.
Schließlich, vielleicht vom Gewissen geplagt, unternahm Lysk mit fünf anderen Legionären den verzweifelten fast
aussichtslosen Fluchtversuch in die Wüste... und hatte Glück. Kämpfer des algerischen Widerstandes retteten ihm sein
Leben. Bei Wartha überschritt der ehemalige Grenzpolizist, Grubenarbeiter und Fremdenlegionär erneut die Grenze der
DDR, nur diesmal in östlicher Richtung... Deprimiert gibt er zu Protokoll: `Ich habe nichts zu meiner Verteidigung zu sagen...
Zu den vom `Grenzpolizisten`beschriebenen Schicksalen desertierter ehemaliger Grenzpolizisten... gehörte auch das des
Soldaten Fritz Wenk. Zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilte ihn das Bezirksgericht Meinigen.
Im Juni 1951 desertiert, führte sein Fluchtweg nicht wie bei Lysk in die französische Fremdenlegion, sondern zur Mitarbeit
im amerikanischen Geheimdienst CIA.
Man schickte ihn als Agent mit `guten Papieren `ins Suhler Simson-Werk. Er wurde beauftragt, Wirtschaftsspionage zu
betreiben... Beim Grenzübertritt zurück zu seinen Auftraggebern wurde Wenk festgenommen."
"Hauptkriterium der Wirksamkeit...
....der gesamten Arbeit in den Grenztruppen ist der sichere Schutz unserer Staatsgrenzen nach Westdeutschland und
Westberlin und die politische Zuverlässigkeit und Standhaftigkeit aller Armeeangehörigen bei den Grenztruppen."
So liest man es in einer "Information über den politisch-moralischen Zustand in den Grenztruppen der Nationalen
Volksarmee" aus dem Jahre 1963, vorgelegt dem Nationalen Verteidigungsrat der DDR.
Die Verantwortlichen sehen in der Tatsache, dass Hunderte ihren Staat verlassen und Fahnenflucht begehen, ein
" ernstes Signal".
Diese Information listet auf: Fahnenfluchten im 1. Halbjahr 1962 = 290 (251 Westgrenze; 39 Berlin).
2. Halbjahr 1962 = 198 (160 Westgrenze; 38 Berlin) und 1. Halbjahr 1963 = 196 (158 Westgrenze; 38 Berlin).
Verhindert wurden an der Westgrenze 14 und an der Grenze zu Westberlin 3 Fahnenfluchten.
Aus der schon mehrmals genannten Schrift "Grenzerfahrungen" von Schätzlein/Albert Band II (Seite 201 - 244) kann
man folgende Zahlen und Fakten entnehmen: Im Zeitraum von 1974 - 1987 wurden überwiegend in den
Grenzregimentern 3 und 15, Dermbach und Sonneberg, 22 Soldaten, 17 Unteroffiziere und 2 Offiziere fahnenflüchtig.
Darunter waren allein fünf Fälle, wo die Deserteure sich mit Gewalt - Androhung von Waffenanwendung, Niederschlagen
und Fesselung des zweiten Mannes - sich den Weg in den Westen freimachten.
Vier Fälle wurden genannt, wo die Desertion verhindert werden konnte. Es handelte sich bei den hier angeführten Fällen
um keine Gesamtbilanz.
Der ehemalige Chef der Grenztruppen der DDR Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten schrieb in dem Buch
"Die Grenzen der DDR" (Seite 212): "Oft standen die Grenzer und besonders die Führungstätigkeit in der Kritik der
leitenden Partei- und Staatsorgane.
In zwei Informationen der Abteilung für Sicherheitsfragen beim ZK der SED vom April und September 1964 wurde
moniert, dass es in der Führungstätigkeit der Grenztruppen `ungenügende Fortschritte in bezug auf die stärkere
Delegierung der Verantwortung nach unten und bezüglich der konkreten Hilfe der Stäbe für die unmittelbar im
Grenzdienst stehenden Einheiten und Truppenteile`gebe. .`
In zahlreichen Grenzkompanien und Grenzbataillonen und auch teilweise in übergeordneten Stäben hat man keine
genaue Kenntnis über die genaue Lage und die vorhandenen Stimmungen der Soldaten.
Die individuelle Überzeugungsarbeit mit ihnen ist in den Gruppen und Zügen noch schwach entwickelt... Die oft
mangelhafte Arbeit der Kommandeure und Stäbe bei der Erfüllung der Aufgaben von Grenzsicherung und Erziehung
der Unterstellten führt auch dazu, dass bei der Verhinderung von Grenzdurchbrüchen und Fahnenfluchten
ungenügende Ergebnisse erzielt wurden. Von Januar bis April 1964 wurden 20 Soldaten und 9 Unteroffiziere
fahnenflüchtig, in der Stadtkommandantur Berlin waren es 5 Soldaten.
Die Frage, weshalb in nur vier Monaten fast drei Dutzend Angehörige der Grenztruppen ( von etwa 40 000) in den
Westen desertierten, wurde auch beantwortet:
`Eine der Ursachen des Ansteigens der Fahnenfluchten ist darin zu sehen, dass die Wirksamkeit der feindlichen
ideologischen Diversionstätigkeit durch viele Kommandeure, Politorgane und Parteiorganisationen, besonders auf
Kompanie- und Bataillonsebene unterschätzt wird. Nach wie vor ist das Abhören westlicher NATO-Sender stark
verbreitet."
Auf der Seite 221 hielt Baumgarten fest: "Allein vom September 1962 bis zum 30. November 1963 gelang
in 260 Fällen 459 Personen der Grenzdurchbruch, 111 Angehörige der Grenztruppen wurden fahnenflüchtig.
Dieser Zustand war nicht hinnehmbar.
In den nachfolgenden Jahren gelang es, ihn erfolgreich zu überwinden. Wobei auch hier... der Widerspruch zwischen
den Aufgaben der Grenzsicherung und den hohen Anforderungen der Gefechtsausbildung Tribut forderte.
Das führte zu einer großen Belastung der Soldaten, zu Einschränkungen bei den Dienst- und Lebensbedingungen
und teilweise zu schlechten Ausbildungsergebnissen."
In der bereits genannten Information des Ministers für Nationale Verteidigung an den Nationalen Verteidigungsrat
(BA-MA, DVW 139473 Bl. 1 ff., Anlage 2) der auf der Sitzung des Rates am 20.09.1963 behandelt wurde, diskutierte
man das Problem, was die "Zuverlässigkeit der Grenztruppen minderte: Da war die mangelhafte politisch-ideologische
Arbeit.
Die Arbeit des Gegners hatte man unterschätzt und zeigte eine defensive Haltung gegenüber dem Westen.
Die politisch-ideologische Arbeit war zu formal.
Den jungen Offizieren fehlte es meist an der Fähigkeit und dem Wissen, im politischen Gespräch mit den Soldaten zu
überzeugen. Unter diesen Offizieren herrschte die Meinung, Fahnenfluchten waren, sind und werden auch in Zukunft
sein. In den Grenztruppen waren vielerorts Sorglosigkeit, Schlamperei in der Disziplin und Ordnung sowie die
Missachtung der Rechte der Grenzsoldaten anzutreffen. Viele Vorgesetzte hatten sich an Disziplinlosigkeit und
Unordnung gewöhnt.
Eine Meinung hatte sich da gebildet, die da lautete: "In den Landstreitkräften der NVA kann man eine straffe Disziplin,
fordern, jedoch bei den Grenztruppen ist das durch die hohe Belastung der Soldaten im Grenzdienst nicht möglich."
Man findet abschließend folgende kritische Bemerkung: "Die Politorgane, von der Kompanie bis zum Kommando, fühlen
sich in zu geringem Umfang für die Einhaltung der dem Soldaten durch Gesetze und Dienstvorschriften zustehenden
Rechte verantwortlich und lassen es an persönlichem Rat und Fürsorge, an der Sorge um den Menschen fehlen."
Auch an der kadermäßigen Zusammensetzung der Grenztruppen wurden gravierende Mängel festgestellt, und sie
wurde nicht immer optimal gelöst.
"Die Wehrkreiskommandos werden den Forderungen für die Auswahl von politisch zuverlässigen Wehrpflichtigen für
die Grenztruppen immer noch nicht gerecht."
Ein weiterer Diskussionspunkt war, dass die Grenzsoldaten im "Hinterland" einer starken negativen Beeinflussung
unterlagen.
"Das beginnt bei Diskussionen der Bevölkerung im Grenzgebiet oder auch im Urlaub mit den Grenzsoldaten über den
Wert ihres Dienstes und geht bis zur direkten Bestechung, um bei Grenzdurchbrüchen Hilfe zu leisten oder selbst
fahnenflüchtig zu werden."
Das Ministerium für Nationale Verteidigung legte als Schlussfolgerung fest, den Grenztruppen generell eine größere
Aufmerksamkeit zuteil kommen zu lassen. "Das muss sich niederschlagen in der vorrangigen Behandlung aller
Probleme der Truppen, die direkt an der Grenze stehen." Im Verlaufe der Zeit änderte sich vieles und die meisten
misslichen Umstände und kritisierten Mängel konnten beseitigt werden. So wurde erreicht, dass im Jahre 1968 erstmals
weniger als 100 Grenzsoldaten fahnenflüchtig wurden. Ein Jahr später waren es nur noch rund 80 Fahnenflüchtige.
Eine Ursache dafür war - neben der Verbesserung der politischen Erziehungsarbeit - weil man bei den Soldaten im
Grundwehrdienst in den unmittebar grenzsichernden Einheiten/Grenzkompanien den Anteil der Älteren und
Verheirateten erhöhte."Diese Altersgruppe war lebenserfahrener, reifer und in ihrem Charakter gefestigter."
Hier sei einmal ein Einschub gestattet. Die in den "Informationsberichten" dargelegten Ursachen und Gründe waren
erst einmal richtig. Untersucht man diese aber gründlich, stößt man auf einen Teufelskreis der schwerlich zu
unterbrechen war und auch immer wieder seine Wirkung zeigte. Die "Informationen" kritisierten scharf, dass man auf
den unteren Ebenen, sprich Kompanien und Bataillone, die "genaue Lage" und die "Stimmungen der Soldaten"
nicht kannte.
Wie sah aber die konkrete Lage und Situation aus? Die Gruppenführer meist neu in ihrer Dienststellung, wenig
Erfahrungen in der Funktion als Unteroffiziere, für die Erziehung und Führung von Menschen kaum ausgebildet - sie
hatten nur die Qualifikation eines sechsmonatigen Lehrganges in der Unteroffiziersschule - oft nur mit ungenügendem
politischem Wissen und keine Kenntnisse und Erfahrungen für die schwere, komplizierte politisch-ideologische Arbeit
unter den Bedingungen der Grenztruppe und der ständigen Einwirkung durch die feindliche ideologische Diversion der
anderen Seite.
Dazu kam, Unteroffiziere wurden nur Soldaten auf Zeit. Da es sich hier nur um Freiwillige handelte, musste die Truppe
diejenigen nehmen, die sich anboten. Ein nicht geringer Teil hatte keine oder nur wenig Voraussetzungen für den Dienst
als Vorgesetzter und Erzieher in den Grenztruppen. In den ersten Jahren nach Einführung der Wehrpflicht rekrutierte die
Truppe ihre Unteroffiziersschüler aus den Reihen der Wehrpflichtigen, die bessere Voraussetzungen dafür besaßen.
Brigadiere, Meister, Lehrer, Lehrausbilder und andere geeignete Personen standen zur Verfügung.
Ihr Handicap bestand darin, sie dienten nur achtzehn Monate.
Entweder war dieses Problem der Führung nicht bekannt - was ich stark bezweifele - oder man fand keine bessere
Lösung, da die Mittel nicht zur Verfügung standen, wie z. B., auch die Gruppenführer hätten Berufssoldaten mit einer
gediegenen, umfassenden Ausbildung sein müssen.
Bei den Zugführer sah es ähnlich aus. Auch hier meist junge, unerfahrene Offiziere als Vorgesetzte. Sie waren zwar
Berufssoldaten, standen aber doch erst am Anfang ihrer Dienstlaufbahn. Sie wiesen zwar ein mehr oder auch weniger
fundiertes politisches Wissen auf, doch in der ideologischen Auseinandersetzung hatten sie wenig Erfahrung.
Für den Offiziersberuf musste man sich freiwillig entscheiden. Also auch hier musste die Truppen diejenigen nehmen,
die sich auch freiwillig anboten. Eine andere Wahl hatte man leider nicht.
Meine persönlichen Erfahrung war, einen Teil des Nachwuchses hielt ich für den Offiziersberuf als nicht oder nur bedingt
geeignet. Sicher eine harte und auch sehr kritische Wertung, die aber aus eigenem Erleben und unumstößlichen Fakten
stammte. Ein Phänomen war es schon, dass die Züge, die von Berufsunteroffizieren geführt wurden - meist
Oberfeldwebel - oftmals die besseren Leistungen in der Gefechtsausbildung und gute militärische Disziplin und Erfolge
im Grenzdienst aufwiesen. Es zahlte sich eben aus, hier waren die Zugführer langjährig gediente und erfahrene
Vorgesetzte, die aus Erfolgen aber auch aus bitteren Niederlagen gelernt hatten.
Das Verbot, die Programme westlicher Radio- und Fernsehstationen -´vornehmlich von NATO-Sendern - zu empfangen,
brachte eigentlich nichts. Die Soldaten fanden schon Wege und Mittel, um an diese Informationen zu gelangen.
Die von diesen Sendern ausgestrahlten Nachrichten und Informationen waren kaum Inhalt politischer Gespräche
zwischen Vorgesetzten und Unterstellten. Und wenn schon, dann wurde es kurz als "Feindpropaganda" abgetan.
Meist bekamen die Soldaten abgedroschene politische Klischees zur Antwort und Phrasen im Stil von "Parteichinesisch"
taten ein Übriges. Überzeugende, beweiskräftige, informative, kritische und auch vor allem selbstkritische Argumente
waren in den Köchern der Agitatoren und auch Propagandisten wenig zu finden.
Die Soldaten und auch viele Unteroffiziere blieben hier sich selbst überlassen und bekamen keine befriedigenden
Antworten auf ihre Fragen und Probleme.
Die meisten Offiziere hielten sich an das Verbot. Ihnen ging es wie die Bürger der DDR, die im Land der
"Ahnungslosen" lebten, wie man die Gebiete nannte, wo Westsender nicht empfangen werden konnten.
Und nur allein vom "Schwarzen Kanal" des Karl-Eduard von Schnitzler zu profitieren, genügte eben nicht.
Ob im Zentralkomitee der SED oder auch in der Politischen Hauptverwaltung, bis hin zu den Politischen Verwaltungen
der Teilstreitkräfte und auch der Grenztruppen der DDR handelte man nach der Devise, wir vertreten und verteidigen
eine historisch, gerechte Sache.
So weit so gut. Aber wie die Gedanken und Überzeugungen dazu, erfolgreich an den Mann gebracht werden müssten,
spielte leider nicht immer die Hauptrolle. Es blieb oft im Klischee und im Formalen stecken. Auch der Dogmatismus
und die Buchstabengelehrtheit ließen grüßen.
Zu viele Tabus behinderten eine wahrhaft, überzeugende und schlagkräftige politisch-ideologische Arbeit.
Die Riege der "alten Herren" im Politbüro der SED meinten, das Volk brauche nicht alles zu wissen, es genügt das, was
wir festlegen und bestimmen.
Doch das ist wahrlich ein weites Feld, lassen wir das einmal.
Auch die politische Schulung brachte nicht das, was von ihr erwartet wurde. Formale Wissensvermittlung, oft weit von
der politischen Praxis und den persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen der Grenzsoldaten entfernt, so dass diese
wenig damit anfangen konnten. Bei Überprüfungen waren vor allem gute Noten gefragt, was zur Notenhascherei führte.
Politischer Meinungsstreit war selten, politische Standpunkte wurden wenig herausgebildet und etwaige Einwände
wurden sofort als feindliche Ansichten diffamiert.
Das alles behinderte die Herausbildung eines gesunden Vertrauensverhältnisses zwischen Unterstellten und Vorgesetzten.
Genauer besehen war an dem Wort, wie die Soldaten die politische Schulung benannten, "Rotlichtbestrahlung", schon
etwas dran.
Einige der Ursachen für Fahnenfluchten lagen in diesen hausgemachten Problemen. Dem muss man sich stellen,
ob es einem passt oder nicht.
Ideologische Diversion
Viele wollen heute von ideologischer Diversion nichts mehr hören. Vor allem die Gegenseite streitet diese vehement ab.
Das Militärlexikon der DDR gibt Auskunft: "Ideologische Diversion ist die Hauptart der psychologischen Kriegführung des
Imperialismus gegen die Völker der sozialistischen... Staaten, die auf die Zersetzung des sozialistischen Bewusstseins
dieser Völker, auf die Verbreitung und Konservierung von imperialistischer Ideologie und die Erzeugung einer
negativen Grundeinstellung.... zwecks Auslösung konterrevolutionärer Aktionen gerichtet ist... Ideologische Diversion
wird mündlich, schriftlich und optisch betrieben." Zu diesen Erläuterungen sind aus meiner heutiger Sicht eigentlich
keine Abstriche zu machen. Uns stand an der Staatsgrenze ein erfahrener, gut ausgebildeter und mit allen Wassern
gewaschener Gegner gegenüber. Seine Handlungen hatten meist feindlichen Charakter und in der psychologischen
Kriegführung war er uns oft überlegen.
Vor allem forcierten die Kalten Krieger in der BRD und in Westberlin nach dem 13. August 1961 diese Methode des
Kampfes, der sich oft speziell auf die Grenzsoldaten konzentrierte. In der ersten Zeit fand in und um Berlin ein
unsäglicher Lautsprecherkrieg statt. Das Westberliner "Studio am Stracheldraht" - mit modernster Schalltechnik
ausgerüstet und finanziert vom Westberliner Senat - richtete seine "Schallkanonen" vor allem auf die Grenzsoldaten
und die Bewohner des Grenzgebietes. Unter der berühmt, berüchtigten Schlagzeile, "Was nicht im Neuen Deutschland
steht" - gemeint war die führende DDR-Zeitung, herausgegeben vom ZK der SED - verbreiteten diese psychologischen
Krieger Nachrichten, gemischt aus Tatsachen, Halbwahrheiten und faustdicken Lügen. Umrahmt war das Ganze mit
modernster Pop-Musik, die sich in erster Linie an junge Leute, sprich, vor allem an die Grenzsoldaten wandte. Die DDR-
Seite konterte natürlich diese feindlichen Aktionen mehr oder weniger erfolgreich. Mit Geländewagen P3 mit
bescheideneren Lautsprechern ausgerüstet, versuchten Spezialpropagandisten der Grenztruppen diesem aggressiven
Treiben Paroli zu bieten. Unsere Technik war der hochmodernen japanischen klar unterlegen.
Später kamen sowjetische Schallkanonen zu Einsatz. Sie hatten zwar die notwendige Phonstärke, waren aber starr
auf dem Chassis des Lkw SIL montiert und konnten nicht gut manövriert werden. Außerdem waren sie technisch
veraltet. Die Westseite agierte mit kleinen wendigen Fahrzeugen, Tontechnik auf Transistorbasis, teleskopartigen Masten,
an denen die Lautsprecherbündel, hingen und somit mit ihrer Lautstärke weit hinter die Grenzmauer reichte. Da wo
dieser infernalische Kampf der Lautsprecher tobte, war unbeschreiblicher Lärm in der Luft. Man verstand sein eigenes
Wort nicht mehr.
Das Leben der Bürger auf beiden Seiten der Grenze wurde unerträglich. Die Grenztruppen der NVA konterten oft
erfolgreich nur mit sehr lauter Musik. Auf Grund zahlreicher und massiver Proteste der Bevölkerung auf beiden Seiten der
Staatsgrenze, stellte man 1963 dann den Lautsprecherkrieg stillschweigend ein. Mit dieser Ausgeburt des Kalten Krieges
war erst einmal Schluss. Die Technik konservierte man, das Pulver hielt man aber trocken. Das war ideologische
Diversion einer besonderen Art.
Nun könnte ja einer sagen, auch die DDR-Seite habe dabei mitgemacht. Von unserer Seite aus war das
Konterpropaganda oder Spezialproganda. Wir hatten uns im Gegensatz zum Westberliner SAS, dem "Studio am
Stacheldraht" nie das Ziel gesetzt, Westberliner bewaffnete Organe zu zersetzen, Leute zu bewegen, zu uns zu
kommen oder gar Westberlin als staatliches Gebilde in Frage zu stellen. Aber genau das taten die Kalten Krieger dieses
Studios gegenüber der DDR.
Die geistigen Väter, die Redakteure, die Werbepsychologen und Spezialisten des psychologischen Krieges hatten
zum Ziel, massiv, geistig, politisch-ideologisch, raffiniert psychologisch und tagesaktuell die Grenztruppen zu
zersetzen, negativ zu beeinflussen, das Grenzregime in Frage zu stellen, die Grenzsoldaten zu bewegen, ihre
dienstlichen Pflichten gemäß des Fahneneides zu verletzen und sie letzten Endes zum Überlaufen zu bewegen.
Nach dem Lautsprecherkrieg stellte dieses Studio an markanten Stellen der Grenze auf Westberliner Gebiet mit
Blickrichtung Osten- meistens dort, wo sich ständig Grenzposten der DDR aufhielten - große Plakattafeln auf.
In einem bestimmtenTurnus wurde der Inhalt dieser Plakate geändert. Bei aktuellen Anlässen reagierte das Studio
prompt. Die Grenzsoldaten nannten das Kind beim Namen: "Hetzplakate". Äußerst geschickt und raffiniert versuchte
man hier mit wenigen Worten und großflächigen Fotos auf die Grenzposten einzuwirken. Das Ziel war das Gleiche.
Ideologische Diversion, Hetze gegen die DDR, ihre Grenztruppen und Verteufelung des Grenzregimes. Soldaten zur
Fahnenflucht aufzufordern oder zumindest ihren Auftrag zur Sicherung der Staatsgrenze nicht oder nachlässig zu erfüllen.
Auf den zweiten Mann kommt es an
Ein Plakat ist mir noch besonders in Erinnerung, da es auch eine gewisse Wirkung zeigte. Auf der Schaufläche war ein
Grenzposten mit zwei Mann abgebildet und daneben stand: "Auf den zweiten Mann kommt es an".
Das war schon gut psychologisch ausgewählt. Auf den zweiten Mann kam es tatsächlich und auch immer im Grenzdienst
an. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, positiv wie auch negativ sehen, dieser Haken saß. Ging es um
Pflichterfüllung oder Pflichtverletzung, handelte es sich um exakte Befehlsausführung oder Befehlsnegierung, immer
war der zweite Mann wichtig und ausschlaggebend. Vom zweiten Mann hing eben alles ab, ob der Grenzposten nun einen
Grenzverletzer stellte und dingfest machte oder ob einer der Beiden die Front wechseln, Fahnenflucht und Verrat begehen
wollte, immer spielte der andere eine große Rolle. Hier stand Vertrauen oder Misstrauen sich gegenüber.
Kann man dem anderen vertrauen, dann war es gut. Hatte aber das Misstrauen die Oberhand, konnte das katastrophale
Folgen haben.
Weihnachten 1965 tauchte ein Hetzplakat auf mit einem großen Foto, welches ein weihnachtliches Motiv darstellte.
Darauf stand: "Weihnachten: Nichts sehen und hören!" Auch dieses Plakat vom Inhalt her raffiniert ausgewählt.
Eigentlich war es eine dreiste, unmissverständliche Forderung an die Grenzsoldaten, an diesen Tagen ihre
Dienstpflichten sträflichst zu vernachlässigen. Das war eine ungeheure Provokation und eine freche, anmaßende
Einmischung in die innerstaatlichen Angelegenheiten der DDR. Ein anderes Plakat zeigte auf einem großen Foto, wie
der Unteroffizier der Grenztruppen, Conrad Schumann, in voller Uniform am 15. August 1961 die noch provisorischen
Sperranlagen in Berlin übersprang und während des Sprunges seine Waffe fortwarf. Dieses Foto ging damals um die
ganze Welt. Auf dem Foto standen die Worte: "Keiner wird zurückgeschickt". Auf anderen Plakaten stand: "Frage für
den Politunterricht: Was bedeutet Meinungsfreiheit in der DDR?" oder nur weißer Untergrund und dicke schwarze Schrift:
"AMTLICHE MITTEILUNG an die GRENZBRIGADEN: Kein geflüchteter Grenzsoldat wird zurückgeschickt!" Das war die
unverschämte, unverhohlene, direkte Aufforderung zum Verrat, zur Fahnenflucht. Noch offener und brutaler ging
es nicht. (Der Fahnenflüchtige Conrad Schumann kam mit seinem Leben im Westen schwer zurecht. Ende der neunziger
Jahre verübte er Suizid. Das konnte man einer Fernsehsendung entnehmen.
Auch diese Einwirkungsversuche durch die Plakate war psychologischer Krieg, sie waren Instrumente der ideologischen
Diversion. Beim ersten Aufstellen dieser Plakatwände an der Staatsgrenze durch das SAS taten das einige Vorgesetzte
einfach als Hetzplakat ab. Man wiegte sich in der Hoffnung, es würde sich schon im Selbstlauf erledigen. Da setzte man
aber auf das falsche Pferd. Bei den Soldaten und Unteroffizieren und auch bei einzelnen Offizieren spielten in ihren
Gedanken und auch in Gesprächen diese feindlichen Parolen schon eine gewisse Rolle.
Die damalige Politische Verwaltung der Stadtkommandantur Berlin versuchte mit Gegenargumenten mehr oder
weniger erfolgreich diese feindliche Propaganda zu kontern. Als Flugblätter und Tonbänder verteilte man diese in den
Berliner Grenzregimentern. Prominente Kommentatoren vom Fernsehen der DDR und dem Rundfunk waren oft die
Autoren. Auch in der politischen Schulung und in den aktuellen politischen Informationen befassten sich die Politoffiziere
offensiv mit diesen Plakaten und versuchten so, den Einfluss zu verdrängen.
Auch ich als Journalist stellte mich in der Zeitung "Volksarnee" dieser Aufgabe, zumal die Zeitung in die Hand eines jeden
Grenzsoldaten gelangte. Aber einfach war es nicht, auf jedes neue Plakat wirkungsvoll zu reagieren. Die Verantwortlichen
in der Politischen Verwaltung und in der Redaktion scheuten sich, in einer offenen, jedermann zugänglichen Publikation,
Klartext zu reden. Ich schrieb damals viele Konterkom- mentare. Welch eine Gehirnakrobatik musste ich manchmal dabei
unternehmen. Ich versuchte immer wieder, in meinen Texten den Lesern reinen Wein einzuschenken. Leider war das oft
vergebliche Liebesmüh. Regelmäßig fielen diese Versuche dem Rotstift zum Opfer. Gerade beim Plakat "Auf den zweiten
Mann kommt es an"; wollte ich es wieder einmal probieren, wie weit die Vorgesetzten mitgingen. Doch weit gefehlt,
das war ihnen einfach zu heiß. Also musste ich mit Allgemeinplätzen und nichtssagenden Worten wieder einmal um die
Sache Drumherumreden. Leider überließen wir hier dem politischen Gegner das Feld. Wir definierten zwar richtig, was
ideologische Diversion war. Darüber existierten auch lange theoretische Abhandlungen, doch in der politischen Praxis
sah es dagegen mau aus.
Weit aus schwieriger war es mit dem feindlichen Einfluss, der über Rundfunk und Fernsehen vom Westen her, ausgeübt
wurde. Allen Angehörigen der Grenztruppen war es bei Strafe verboten, Westsender zu empfangen. Eigentlich galt das
nur für die Dienststellen. Was der Grenzsoldat im Ausgang und im Urlaub machte, konnte nicht kontrolliert werden.
Wenn auch das Verbot existierte, waren wir als Offiziere der Politischen Verwaltung jedoch davon überzeugt, dass die
meisten Grenzsoldaten dieses Verbot umgingen. Aus dieser Lage heraus waren wir uns des Umstandes bewusst, dass
bei allen politischen Gesprächen, die wir führten, die Stimme, die Ideen und Ansichten des politischen Feindes mit im
Spiele waren.
Ich sah es als unsinnig an, dass die Vorgesetzten auch diesem Verbot unterlagen. Nur ein wirklich kleiner Teil der
Politoffiziere hatte jederzeit Zugang zu den westlichen Medien. Überhaupt brachte dieses Verbot, diese Gängelei und
dieses unmündige Behandeln von erwachsenen Menschen nichts.
Der feindliche Einfluss war nun mal da. Westberliner Radio-Stationen wie, RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor)
und der SFB - Sender Freies Berlin - hatten spezielle Sendungen in ihrem Programm, die sich konkret an die
Grenzsoldaten der DDR wandten. Sie wurden täglich gesendet und oft auch wiederholt. Auch in der BRD gab es einige
Sender in deren Programmen ebenfalls Sendungen für die Grenztruppen per Äther verbreitet wurden.
Die " Stimme Amerikas" und der "Deutschlandfunk" fehlten nicht in diesem Reigen.
Auch der RIAS meldete sich zu Wort
In meiner journalistischen Arbeit beschäftigte ich mich mit der Sicherung der Staatsgrenze und dem Dienst der
Grenzsoldaten. Am 10. Juli 1964 veröffentlichte die Wochenzeitung "Volksarmee" unter der Überschrift,
"Auf Tuchfühlung" eine Reportage von mir. Ich schilderte den Dienst der Grenzsoldaten an der Spree und führte dabei
einige Provokationen an, die gerade in diesem Grenzabschnitt passiert waren. Diese Reportage war für den
Westberliner Sender RIAS, Anlass, in einer Sendung am 15. Juli 1964, früh 05,35 Uhr in der Sendereihe, "Für Ulbrichts
Bewaffneterund um Berlin", Stellung zu nehmen.
In dem RIAS-Kommentar von Horst Baum hieß es unter anderem: "Nehmen sie doch die Nummer 28 ihrer Pflichtlektüre
mit Namen `Volksarmee` zur Hand, blättern sie, nicht darüber hinwegsehen, hingucken. Sehen sie die Überschrift `Auf
Tuchfühlung`?unter diesem Artikel steht der Name Liebig. Liebig ist sozusagen schreibender Hauptmann und gebärdet
sich als Sachverständigerfür die Verhältnisse an der Mauer und am Stacheldraht. Was dieser Hauptmann erlebt und
erfahren hat, stellt Münchhausen in den Schatten und dabei war Münchhausen doch ganz gut. Hauptmann Liebig sieht
ständig den Feind auf unserer Seite. Der Westen provoziert unentwegt... Hauptmann Liebig spinnt jedenfalls. Was ich
nicht verstehe ist, dass es Offiziere gibt, die es wagen, ihnen dem Kameraden im Grenzdienst den zitierten Unsinn von
westlichen Provokationen und angeblichen Banditen auf die Nase zu binden..."
Einmal abgesehen davon, dass dieser Kommentar im damals üblichen gehässigen und hetzerischen Stil abgefasst
war, und Horst Baum unsere Grenzsoldaten scheinheilig und sich anbiedernd Kameraden titulierte, hatte meine
Reportage doch die RIAS-Journalisten, um nicht Journaille sagen zu müssen, irgendwie getroffen.
Wenn er sagte, die Zeitung sei die Pflichtlektüre der Soldaten gewesen, so war das eine infame Behauptung, wenn
nicht gar eine Lüge. Natürlich bekam jeder Armeeangehörige die Zeitung in die Hand. Was er aber damit machte,
blieb ihm schließlich selbst überlassen.
Und was die westlichen Provokationen und Gewaltakte an der Staatsgrenze betraf, waren das weder meine Erfindungen
noch war es Unsinn. Dieses feindliche Geschehen beruhte auf Tatsachen und hieb und stichfeste Fakten. Tatzeugen und
Fotos dokumentierten das. Steinwürfe, unflätige Schimpfereien, Bedrohungen mit Waffen und Beschießen, angefangen
von der Steinschleuder über Luftdruckwaffen bis hin zu scharfen Schüssen, dass alles gehörte damals zum Alltag an
der Grenze.
Nur wenige Monate war es erst her, als der Gefreite Siegfried Widera und sein Posten während des Grenzdienstes
heimtückisch und hinterhältig niedergeschlagen wurden. Gefreiter Widera erlag dann den schweren Verletzungen.
Wie sollte man nun diese Leute nennen? Ehrenmänner, Freiheitshelden oder gar Deutsche, die nur von Deutschland
nach Deutschland wollten? War da Mörder, Totschläger oder Banditen nicht zutreffender? Diese Sendereihe des RIAS
kam 05.35 Uhr zu einer relativ günstigen Zeit. Günstige Stunde deshalb, weil man nicht zu unrecht annahm, dass zu
dieser frühen Zeit die Soldaten, die sich im Dienst an der Grenze befanden, sich selbst überlassen waren.
Die RIAS-Leute wussten natürlich, einige Grenzsoldaten führten Taschenempfänger bei sich, um sich in der Dienstzeit
etwas die Zeit zu vertreiben. Dazu kam, der RIAS strahlte von einer überdimensionalen Sendestation mit einer großen
Sendeleistung sein Programm aus. Das war nicht mehr der "Rundfunk im amerikanischen Sektor", sondern eine scharfe
Waffe im Kalten Krieg mit einer Reichweite in viele Bezirke der DDR hinein. Außerdem wurde dieses Programm auch
noch von der Stadt Hof/Bayern in der BRD ausgestrahlt. Auf Grund der starken Bodenwelle konnte der RIAS eine
zeitlang auch in Teilen des Grenzmeldenetzes von den Soldaten gehört werden. Salopp im Ton, leger im Umgang, oft
die Stimmung der Soldaten treffend, in einer raffinierten Mischung von Lügen und Halbwahrheiten, tatsächlichen
Fakten und tendenziöser Darstellung von Vorkommnissen an der Grenze versuchten die Amis - alle leitenden Posten
im Sender waren von US-Amerikanern besetzt - und ihre willfährigen deutschen Handlanger unsere Soldaten zu
beeinflussen, zu zersetzen und letzten Endes zur Fahnenflucht zu bewegen. Die Sendebeiträge von RIAS und SFB,
meist sehr kurz und prägnant gehalten, verrieten professionelle Handschrift. Hier agierten psychologische Krieger,
wahrscheinlich auf Erfahrungen aus dem 2. Weltkrieg fußend und exerzierten ideologische Diversion.
Im psychologischem Krieg - speziell in der ideologischen Diversion - wurden auch noch andere Mittel und Methoden
verwendet.
So starteten feindliche Agenturen vor allem in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre vom Territorium der BRD
aus, Tausende Ballons mit Flugblättern. Das waren ausgesprochene Hetzschriften zur Beeinflussung der Bürger der
DDR und auch der bewaffneten Organe. Hunderttausende solcher gemeiner Flugblätter rieselten auf die DDR nieder.
Darunter solche Traktate wie die unsägliche "Tarantel", die zum passiven Widerstand aufrief und zu Sabotageaktionen
aufforderte. Auch die Zeitung "Volksarmee" im Miniformat mit feindlichem Inhalt versuchte, die Soldaten zum Verrat zu
bewegen und zum Ungehorsam anzustiften. Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, auch sogenannte
"Propagandakompanien" der Bundeswehr befanden sich im Einsatz.
Die Ballons der Bundeswehr waren mit Zeitzündern ausgerüstet. Entsprechend der Windstärke und Windrichtung
startete man die Ballons und rechnete damit, dass sie über militärische Objekte der bewaffneten Kräfte der DDR
und Übungsplätzen flogen, wo sie dann gezündet wurden.
Eine Schlussbemerkung zu diesem Kapitel. Diese feindlichen Sendungen westlicher Stationen wurden in der DDR von
staatlicher Seite aus mitgeschnitten. Vor mir die Mitschrift solch einer Sendung. Auf den Inhalt will ich hier nicht
eingehen. Firmiert ist dieses Schreiben mit "Staatliches Rundfunkkomitee, Abteilung Information": Oben links und
rechts auf dem Blatt liest man, "Vertrauliches Material nur für den Dienstgebrauch". Man war es eben gewohnt und
kannte es nicht anders. Eigentlich war es aber hanebüchen. Da wurde eine Sendung des RIAS schriftlich fixiert.
Als Arbeitsmaterial wurden diese Niederschriften durchaus gebraucht - deren Inhalt aber Zehntausende, wenn nicht
gar mehr Rundfunkhörer empfangen hatten. Ich weiß nicht wie viele Grenzsoldaten diese Sendung ebenfalls gehört
hatten, einige sicherlich. Das was in aller Welt oder zumindest in Deutschland gehört werden konnte und auch wurde,
deklarierten die DDR-Behörden als "Vertrauliches Material nur für den Dienstgebrauch" Was für ein Nonsens. In
welcher Welt lebten eigentlich die dafür Verantwortlichen? Ein kleiner Kreis, dazu gehörte auch ich, bekam das als
"Vertrauliches Material" auf den Tisch. Größer konnte der Unsinn nicht sein. Wie schwierig und kompliziert es
für die FDJ- und Parteifunktionäre, den Kommandeuren und den Offizieren der unteren Ebene war, unter diesen man
schon getrost sagen, schizophrenen Umständen, wirksame politische Arbeit zu leisten, kann man sich gewiss vorstellen.
Die politischen Mitarbeiter waren oft mit diesem Dilemma konfrontiert. Ich bin mir sicher, auch die meisten Offiziere der
Politischen Hauptverwaltung waren sich mehr oder weniger dieser Misere bewusst. Ausklammern will ich hier die Chefs
und die vom ZK, die wollten das so, sonst hätten sie es sicher geändert. Lebten diese in einem Wolkenkuckucksheim?
Man bestimmte eben von Oben, was für das Volks gut war oder nicht.
Fahnenflucht und Spionage
Es muss hier im Zusammenhang mit dem gesamten Thema noch einmal hervorgehoben und auch wiederholt werden:
Desertion oder auch Fahnenflucht beging der Grenzsoldat - egal welchen Dienstgrades - mit der bewussten Absicht,
seine Dienststelle oder einen anderen für ihn bestimmten Aufenthaltsort zu verlassen oder ihnen fernbleibt und sich
somit dem Wehrdienst zu entziehen. Das erfüllte nach dem Strafgesetzbuch der DDR § 254 (1) den Tatbestand der
Fahnenflucht.
Wie wir ebenfalls wissen, wird auch in der BRD die Fahnenflucht bestraft. Nach dem "Wehrstrafgesetz" § 16 wird diese
Straftat mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.
Wenn man die beiden Gesetze - die der DDR und der BRD - vergleicht, stellt man eine gewisse Übereinstimmung fest.
Nur das Strafmaß war in der DDR höher. In der DDR konnte die Strafe bis zu sechs Jahren Freiheitsentzug betragen.
Dazu kam in der DDR, dass in schweren Fällen der Täter mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu zehn Jahre bestraft werden
konnte. Schwere Fälle waren unter anderem, wenn die Tat "mit dem Ziel begangen wird, das Staatsgebiet der
Deutschen Demokratischen Republik zu verlassen oder diesem fernzubleiben... unter Mitnahme einer Waffe erfolgt,
oder zur Verwirklichung der Tat Gewalt gegen andere Personen angewandt oder mit Gewalt gedroht wird... von
mindestens zwei Militärpersonen gemeinschaftlich begangen wird."
Horst Jüttner schreibt in seinem Buch "Grenzalarm", verlag am park in der edition ost, Seite 68 f. erschienen 2007:
"Fahnenfluchten beschäftigte die Grenzer zwischen 1945 und 1990 nahezu täglich. Das war und ist insofern nichts
Ungewöhnliches, als überall auf der Welt Soldaten desertierten und desertieren. Solange es Armeen gibt, kehren
ihnen junge Männer den Rücken und werden dafür gemäß den Gesetzen des Landes bestraft - so man ihrer habhaft
wird... Fahnenfluchten waren (und sind) nicht unbedingt Indiz für den politisch-moralischen Zustand einer Truppe,
auch wenn man dies im Falle der NVA bzw. der Grenztruppen nach 1990 behauptete. Denn trotz der keineswegs
unerheblichen Zahlen, handelte es sich in der Mehrheit der Fälle nicht um ein politisches Votum."
US-Deserteure verstecken sich im eigenen Land und einige ersuchen, in anderen Staaten um Asyl. Zur Zeit des
Vietnamkrieges verließen einige Tausend US-Soldaten ihre Truppe. Und auch heute desertieren laufend GI aus der
US-Army. Sie wollen nicht in die kriegerischen Auseinandersetzungen im Irak und in Afghanistan verwickelt werden.
So ist es auch in vielen anderen Ländern.
Die Existenz zweier deutscher Staaten schuf dagegen für die Fahnenflüchtigen aus den bewaffneten Organen der DDR
andere Bedingungen. Bei den allermeisten Grenzsoldaten bestand das Ziel ihrer Desertion darin, ihren Staat für immer
zu verlassen und in der BRD ihren Wohnsitz zu nehmen. Damit machten sie sich im Sinne des § 254 (2) des schweren
Falls dieses Deliktes schuldig.
Doch dabei blieb es meist nicht. Fast alle Deserteure wurden bei ihrer Ankunft in der BRD oder in Westberlin ersten
Vernehmungen durch den Bundesgrenzschutz, der Bayrischen Grenzpolizei oder der Westberliner Polizei unterzogen.
Dann wurden sie an die Geheimdienste der jeweiligen Besatzungsmacht weiter gereicht.
In den Fängen westlicher Geheimdienste
Die "Sichtungsstellen" des USA-Geheimdienstes - diese Stellen mussten, in der Regel als erste aufgesucht werden -
entfalteten auf diesem Gebiet eine besonders rege Tätigkeit. Die Mitarbeiter dieser Dienste befragten die Deserteure
besonders intensiv und sehr ausführlich. Dort interessierte buchstäblich alles. Vom militärischen Tagesablauf, der
Organisation des Dienstes, Charakteristika von Vorgesetzten bis hin zum Speiseplan, dem Zustand der militärischen
Disziplin und Ordnung und dem Verhältnis zur Grenzbevölkerung. Hier fielen sie versierten Vernehmern in die Hände,
die allerlei psychologische Tricks und Verhörmethoden anwandten, um so, viel wie nur möglich, Informationen zu
gewinnen. Die Geheimdienstmitarbeiter hatten gute strukturelle und meist auch aktuelle Kenntnisse über die
Grenztruppen und kannten einige Internas des Dienstregimes, der Bewaffnung, des Personalbestandes und anderes.
Auf Grund dessen konnte sie in ihren Vernehmungen gezielt nachhaken.
Um sich gute Startbedingungen in der BRD zu verschaffen hatten viele Fahnenflüchtige von vornherein eingeplant,
restlos auszupacken, das heißt: Alle ihnen persönlich bekannten Militärgeheimnisse " oder sonstige Nachrichten, die
...zum Schutz der Deutschen Demokratischen Republik geheimzuhalten sind", an die westlichen Geheimdienste zu
verraten. Das stellte dann eine weitere Straftat dar, die nach dem Strafgesetzbuch der DDR§ 97, 2 mit Freiheitsstrafen
geahndet wurde. Waren die Fahnenflüchtigen nicht kooperativ und hatten einige von ihnen auch vor, nichts zu verraten,
so wurden sie psychologisch unter massiven Druck gesetzt und zur Preisgabe ihnen bekannter Geheimnisse letztlich
veranlasst oder gar erpresst. Mit dem Verrat militärischer Geheimnisse machten sie sich - fast ohne Ausnahme -
bei den "Sichtungs- bzw. Befragungsstellen" in der BRD oder auch in Westberlin des Tatbestandes der Spionage
schuldig. Sahen die Mitarbeiter der Geheimdienste bei ihren Vernehmungen Möglichkeiten oder günstige Umstände,
neue geheimdienstliche Verbindungen zu schaffen und so zu weiteren wertvollen Informationen zu kommen, so
forderten sie die Fahnenflüchtigen auf - mitunter mit Geldbeträgen winkend - auf verschiedenen Wegen Kontakte
zu ihren ehemaligen Kameraden in den Dienstellen oder auch Freunden herzustellen.
Die Deserteure bekamen dann den Auftrag, diese für eine eventuelle Zusammenarbeit zu werben oder auch - das war
nicht selten - zur Fahnenflucht in den Westen zu bewegen. Oft wurden die Verräter damit beauftragt, die Fahnenflucht
zu organisieren. Meist geschah das über die Post, mit falschen Absendern und fingierten Anschriften. Wie wir schon
weiter oben sahen, wurden auch fahnenflüchtige ehemalige Grenzsoldaten bei erkannten Voraussetzungen auch
unmittelbar als Agenten angeworben.
In der Zeit vor dem 13.August 1961 geschah es auch, wenn Deserteure während ihres Urlaubes flüchteten, dass sie
sofort von den Agenturen oder auch staatlichen Stellen zurückgeschickt wurden und in ihrer Einheit Spionage betreiben
sollten. Das trat insbesondere dann ein, wenn die Betreffenden nach ihrer Anwerbung noch die Möglichkeit hatten,
pünktlich in ihren Dienststellen wieder einzutreffen.
"Fahnenflüchtige Angehörige der NVA und der GT wurden bei Eignung häufig für nachrichtendienstliche Aktionen
genutzt, wie die folgenden Beispiele zeigen.
Als Ende der 50er Jahre in der NVA und in den GT eine Truppenschutzmaske mit einem der Geheimhaltung
unterliegenden Filter eingeführt wurde, unternahmen die Geheimdienste große Anstrengungen, eine solche
Truppenschutzmaske mit Originalfilter zu beschaffen, um konkrete Erkenntnisse über deren Wirkung gegen die
verschiedenen Komponenten von ABC-Waffen (atomare, bakteriologische und chemische Waffen) testen zu können.
Oder: Um herauszufinden, gegen welche Komponenten diese Filter nicht oder nicht genügend wirksam waren.
Zur Beschaffung wurde der aus der 13. Grenzbrigade Rudolstadt, Grenzregiment Zschachenmühle, in die BRD
geflüchtete Oberleutnant S. vom amerikanischen Geheimdienst angeworben. Er wurde beauftragt, Verbindungen
in seine ehemalige Grenzeinheit zu aktivieren und die früheren persönlichen Beziehungen und Kontakte zur
Beschaffung des Originalfilters zu nutzen. Bei der Durchführung dieses Auftrages wurde er auf dem Gebiet der DDR
festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt." So liest man es in dem Buch "Die Sicherheit Zur
Abwehrarbeit des MFS", Band 2, Seite 378, edition ost, 2002.
Im Buch "Grenzerfahrungen", von Schätzlein/Rösch/Albert, Band I, erfährt man zur selben Sache folgendes: "Ostwärts
Nordhalben im Muschwitzgrund nahe der Krögelsmühle bei Heinersberg unternimmt ein ehemaliger Offizier der
sowjetzonalen Grenzpolizei den Versuch, seine Familie in den Westen zu holen. Er wird entdeckt, kann aber trotz
Schusswaffengebrauch der Grenzpolizisten noch mehrere Meter auf bundesdeutsches Gebiet flüchten. Dort wird er
von einem Kommando überwältigt und auf DDR-Gebiet zurückgeschleppt, später zum Tod verurteilt und hingerichtet."
Einmal davon abgesehen, zehn Jahre nach Gründung der DDR heißt es hier noch "ein ehemaliger Offizier der
sowjetzonalen Grenzpolizei" der auf "bundesdeutsches Gebiet flüchtete". Hallstein lässt grüßen. Nur weil er seine
Familie "in den Westen" holen wollte, sei er zum Tod verurteilt und hingerichtet worden?
Was war wirklich geschehen? Der ehemalige Oberleutnant der Deutschen Grenzpolizei, Manfred Smolka, war in die BRD
desertiert, dort vom US-Geheimdienst angeworben und mit Spionage gegen die DDR beauftragt (siehe oben).
Das Bezirksgericht Erfurt verurteilte ihn wegen Militärspionage im schweren Fall zum Tode. Welche Folgen die Kenntnis
des geheimzuhaltenden Inhalts des Filters der Truppenschutzmaske in den Händen westlicher Geheimdienst gehabt
hätte, kann sich jeder selbst ausmalen. Davon ist aber im Buch "Grenzerfahrungen" überhaupt nichts zu erfahren.
Hier heißt es:"FAMILIE DER STASI AUSGELIEFERT". Und diese Story wird breit ausgewalzt.
Noch ein weiterer Fall aus dem Band 2, Seite 378, "Die Sicherheit": "1987 wurde Oberstleutnant M.,
Bataillonskommandeur der Grenztruppen fahnenflüchtig. Er wurde sofort unter Umgehung der Sichtungsstelle in ein
konspiratives Objekt des Bundesnachrichtendienstes (BND) überführt. Im Ergebnis der intensiven Befragung sah der
zuständige Mitarbeiter des BND eine günstige Möglichkeit, eine Verbindung zu einem Offizier der Grenztruppen
herzustellen, um diesen für den BND zu gewinnen. M. schrieb im Auftrag des BND einen Brief an einen ihm gut
bekannten Oberst, in dem er diesen auf das Interesse des BND aufmerksam machte. Als jener den Brief erhielt,
übergab er ihn unverzüglich dem für seine Dienststelle zuständigen Unterabteilungsleiter der HA I (MfS).
Im Ergebnis der durchgeführten operativen Maßnahmen wurde ihm vom BND in einem `Toten Briefkasten` eine
schriftliche Auftragserteilung übermittelt mit dem Angebot, 300 000 DM bei Erfüllung der Aufträge zu zahlen und ihn
bei Gefahr mit seiner Familie aus der DDR auszuschleusen.
In der weiteren Folge der Abwehrmaßnahmen der HA I in Zusammenarbeit mit der HA II gestaltete sich diese Aktion
für den BND als Misserfolg." Wie wir sehen, existiert keine Regel ohne Ausnahme.
In den Jahren des Bestehens der Grenzpolizei/Grenztruppen gab es leider auch fahnenflüchtige Offiziere.
Major a.D. Gerhard R. Lehmannschildert das in seinen Erinnerungen, "...allzeit treu zu dienen", Seite 165:
"Bis zum 2. Juni 1981 war die Welt noch in Ordnung... Doch dann kam alles ganz anders. Als mich gegen 17.30 Uhr
die ersten Anfragen der Funkaufklärung erreichten, ob es im Bereich Apfelbach, Walkes eine besondere Lage gäbe,
konnte ich noch nicht ahnen, was eine Stunde später Gewissheit war:
Mein Regimentskommandeur Oberstleutnant Klaus Rauschenbach, hatte `im Zustand zeitweiliger Bewusstseinstrübung `
das vordere Sperrelement überstiegen und war in die Bundesrepublik übergelaufen. Zwar kam er nach drei Tagen
wieder zurück, aber das konnte den alten Zustand nicht wieder herstellen."
Die Untersuchungskommssion für diese "Fahnenflucht?" stand unter der Leitung des Stellvertreters des Ministers und
Chef der Grenztruppen der DDR. Der Seitenwechsel des Rauschenbach wurde in der Öffentlichkeit nie geklärt. Offiziell
sprachen die DDR-Behörden "von einer zeitweiligen geistigen Verwirrtheit oder auch Bewusstseinstrübung".
Auch in einer Sendung des DDR-Fernsehens wurde diese Version verbreitet. Die DDR-Behörden und von ihnen
Beauftragte, einschließlich der Familie, nahmen unverzüglich mit Rauschenbach Verbindung in der BRD auf. Es gelang,
den ehemaligen Oberstleutnant zu bewegen, in die DDR zurück zu kehren. Zu einer gerichtlichen Verurteilung kam
es nicht. Er wurde fristlos aus dem Dienst der Grenztruppen der DDR entlassen.
Ganz anders verhielt es sich mit dem ehemaligen Kommandeur des 2. Mot.-Schützenregiments, in Stahnsdorf
stationiert, Oberstleutnant Löffler. Anfang der 60er Jahre wurde er fahnenflüchtig. Er nutzte seine Kenntnisse über die
Grenzsicherung und des Geländes sowie die Lage an der Staatsgrenze skrupellos aus, um nach Westberlin zu desertieren.
Vor den Geheimdiensten legte er all sein politisches und militärisches Wissen dar, einschließlich des Inhalts geheimer
Dokumente. Außerdem spielte er eine miese und unrühmliche Rolle in Organisationen, in denen sich Fahnenflüchtige
aus der DDR zusammen gefunden hatten. Er forderte über die Medien auf, seinem Beispiel zum Verrat und der
Fahnenflucht zu folgen.
Ähnlich schändlich verhielt sich der ehemalige Oberstleutnant Krajewski von der Grenzbrigade Groß Glienicke.
Mit einem Boot, seiner Frau und noch einer Familie überwanden sie die Staatsgrenze zu Westberlin auf der Havel bei
Potsdam.
Horst Jüttner berichtet in seinem Buch"Grenzalarm" über Fahnenfluchten von Offizieren. "Auch SED-Mitglieder und
Dienstgrade bis zum Major waren unter den Abgängen. Auch der Regimentsarzt des Grenzregiment-8 schwamm mit
Freundin und Kleinkind über die Elbe." In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden: Übermäßiger Alkoholkonsum,
moralische Instabilität, Unzufriedenheit mit der Karriere und sich daraus ergebende Widersprüche mit dem dienstlichen
Umfeld oder auch mit der Familie waren Gegebenheiten, an denen die westlichen Geheimdienste anzuknüpfen
versuchten. Doch die Masse der Deserteure rekrutierte sich aus dem Bestand der Wehrpflichtigen, vor allem der
Soldaten und Unteroffiziere. Das war schon so, als die Wehrpflicht noch nicht existierte und die Einheiten und
Truppenteile der Deutschen Grenzpolizei sich aus Freiwilligen zusammensetzte, die sich zu einem mindestens
dreijährigen Dienst an der Grenze verpflichteten.
Ursachen und Motive für Desertionen
Eine offizielle und amtlich gesicherte Gesamtzahl der Deserteure für die Jahre 1946 bis 1990 existiert nicht.
Die Zahlen, die genannt werden resultieren meist aus Jahreszahlen - für einige Jahren gibt es diese aber nicht -
oder es sind Teilbilanzen für gewisse historische Abschnitte oder bestimmte politische Situationen und Ereignisse.
Oft sind es nur Hochrechnungen, die auch nur einen wahrscheinlichen Aussagewert besitzen. Man trifft auch auf
Annahmen, Zahlen vom Hörensagen aber auch Zahlenspekulationen und gefälschte Zahlen. Genaues weiß man nicht.
Doch die Tatsache bleibt, es waren viele, all zu viele, es waren leider Tausende. Ich will mich hier nicht festlegen und
etwaigen Spekulationen Vorschub leisten. Jüttner führt an, dass in den Jahren bis 1961 im Jahresdurchschnitt rund
250 Grenzer in den Westen flüchteten.
Leider nennt er aber nicht, von welchem Jahr an das gilt. Nehmen wir nur einmal die letzten fünf Jahre bis 1961 das
sind dann schon 1 250 Geflüchtete. Legt man noch die Gesamtzahl der Angehörigen der Grenztruppen der damaligen
Zeit von rund 40 000 Mann zu Grunde, kommt man auf ca. 0,64 % Abgang im Jahr. Das bezieht sich aber nur auf die
Grenztruppen. Andere bewaffnete Organe lassen wir hier einmal außer acht.
Diese Fluchtbewegung sprich Desertionen von Grenzern, muss man im historischen Kontext der gesamten
gesellschaftlich-politischen Situation der DDR, ihre Einbindung in die Ost/Westkonfrontation und ihrer unmittelbaren
Einbeziehung und Teilnahme in den Kalten Krieg verstehen. Professor Jörg Roesler nennt in dem schon hier zitierten
Heft, dass im Zeitraum von 1953 bis 1959 rund 1,8 Millionen Bürger die DDR verließen, flüchteten, abwanderten und
schließlich als Migranten um Aufnahme
in der BRD ersuchten. Auf Seite 12 seiner Schrift schreibt Roesler : "Nach den vorliegenden Angaben verließen zwischen
Januar 1951 und August 1961 2 612 000 Ostdeutsche die DDR in Richtung Westen. In die umgekehrte Richtung
wanderten 588 000 Personen. Die Zahl der Abwanderer war etwa viereinhalb Mal größer als die Zahl der Zuwanderer.
Der Netto-Wanderungsverlust der DDR lag im genannten Zeitraum bei etwas mehr als 2 Millionen Personen."
In einer Diplomarbeit von Oberstleutnant Siegfried Weiße vom 20.05.1969 in der Juristischen Hochschule Potsdam-Eiche
steht: "Im Zeitraum von Januar 1963 bis Dezember 1968 wurden insgesamt 296 Überläufer der Bundeswehr, des BGS
und anderer bewaffneter Organe Westdeutschlands von der HA I bearbeitet, und damit eine Vielzahl zweckdienlicher
Angaben über den militärischen und paramilitärischen Gegner sowie in einigen Fällen über subversive, gegen die DDR
gerichtete Handlungen, erbracht." Ursachen und Motive für das Verlassen der DDR, zum Überlaufen, zur Abwanderung,
zur Migration, zur Republikflucht gab es wahrlich viele. In jedem konkreten Fall waren diese recht unterschiedlich
gelagert.
In der Einschätzung von Professor Roesler reichte es "von dem Motiv, einer drohenden Verhaftung, Verurteilung und
Einkerkerung als politischer Gegner zu entgehen, bis zur Gewinnung sozialer und wirtschaftlicher Vorteile... durch
Beschäftigung bzw. den Ersatz von niedriger durch höher bezahlte Arbeit... Die Motive reichten von der
Zusammenführung der durch Kriegs- und Nachkriegsfolgen versprengten Familienmitglieder bis zur Flucht vor der
Zahlung von Unterhaltsbeihilfe... bis zur Abenteuerlust... Viele mochten nicht nur einen, sondern mehrere Gründe
gehabt haben, in den anderen Teil Deutschlands zu wechseln.
Dem Wanderungswilligen dürfte es nicht immer klar gewesen sein, was der entscheidende Grund war, welches das
(von ihm selbst) vorgeschobene, welches das wirkliche Motiv ... Manch ein Abwanderer aus dem Osten mag sich selbst
nicht eingestanden haben, dass er `des schnöden Geldes` wegen `rübermachte` und deshalb lieber an politischer
Bedrückung oder eine verhinderte berufliche Karriere als Ursache für seinen Entschluss zur Migration glauben wollte.
Hinzu kam: Wenn sich die Übersiedlungsgründe erst einmal angestaut hatten, genügte oft ein an sich unbedeutendes
Ereignis ... um eine `Kurzschlussreaktion`hervorzurufen. Das letzte Ereignis, dass unmittelbar zum Verlassen des
Landes führte, war dann zwar Anlass aber keineswegs Ursache" für die Flucht.
Die hier aufgeführten Motive galten für alle Republikfluchten. Viele dieser Motive lagen auch den Desertionen zu
Grunde. Dazu kamen aber auch noch andere Ursachen und Motive für diese Militärverbrechen hinzu. Dieses Feld ist -
im Gegensatz oder vielmehr in Ergänzung des bis jetzt Gesagtem - weitaus differenzierter zu betrachten und auszuloten.
Manfred Dietze und Bernhard Riebe schätzen das in dem Kapitel "Zur Militärabwehr (HA I im MFS) im Band 2 "
Die Sicherheit", Seite 385 folgendermaßen ein: "Die Motive für Fahnenfluchten waren vielfältig. In den wenigsten Fällen
waren sie politischer Natur, auch wenn man das heute glauben machen möchte. Bei den Fahnenflüchtigen handelte es
sich fast ausschließlich um Jungerwachsene zwischen 18 und 25 Jahren, die ihren Weg ins Leben noch suchten und die
mit ihrer Handlung glaubten, den Widrigkeiten des Alltags und ihren Konflikten auf diese Weise zu entgehen. Der Anlass
für eine Fahnenflucht war meist im persönlichen, dabei oft auch im familiären Bereich angesiedelt, sie erfolgte oft
spontan. Differenzen und Widersprüche wie `Hänseleien aus verschiedenen Gründen, Schikanen bei der
Pflichtverteilung und andere Störungen der zwischenmenschlichen Beziehungen, Nichtgewährung von Ausgang bzw.
Urlaub, ungerechte oder als ungerecht empfundene Behandlung durch Vorgesetzte, Auseinandersetzungen in der
Familie, mit der Verlobten oder Freundin etc. waren häufig Anlass für den Entschluss, nicht in die Einheit
zurückzukehren und sich damit zugleich dem Wehrdienst für immer zu entziehen."
Dazu kamen aber auch noch andere Umstände, Verhältnisse und Beziehungen, die den Dienst in der Grenzpolizei und
dann später in den Grenztruppen nicht gerade attraktiv machten. Die anhaltende Hetze, Verleumdungen und der
Wahrheit entgegengesetzte Darstellungen gegen die notwendige, staatserhaltende Grenzsicherung und dem Grenzregime
taten ein übriges. Teilen der Bevölkerung erschienen die Grenztruppen neben ihren Sicherungs- und
Verteidigungsaufgaben auch oder sogar primär als Kostenfaktor, der die knappen ökonomischen Ressourcen des Landes
belasteten. In einigen Teilen der DDR - besonders in Berlin, der Hauptstadt der DDR - waren die Uniformen der
Grenztruppen nicht gerade gern gesehen. Das hat mancher Grenzer - auch der Autor war davon betroffen - in Zügen,
in Diskos, Kneipen usw. erfahren müssen, und auch solche Erfahrungen und Erkenntnisse sind dem Soldatenalltag
zuzurechnen.
Auf der einen Seite waren die Kader, die Ende der 40er Jahre die Grenzpolizei aufbauten, meist überzeugte
Antifaschisten. Viele waren Mitglieder der KPD und der SPD. Sie kamen aus der Illegalität, aus faschistischen
Konzentrationslagern und Zuchthäusern, sie hatten in Spanien gegen die Faschisten gekämpft oder hatten in der
Sowjetunion Zuflucht gewonnen. Einige hatten in den Reihen der Roten Armee gekämpft, waren bei den sowjetischen
oder jugoslawischen Partisanen. Andere wiederum kamen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft und hatten dort
Antifa-Schulen absolviert.
Auf der anderen Seite kamen viele der ersten Angehörigen der Grenzpolizei kaum aus politischen Gründen oder gar
Einsicht in die Notwendigkeit an die Grenze. Ihre Motive für den Dienst haben wir schon eingangs behandelt. Neben
einer nachkriegsbedingten und zeitweiligen Ungewissheit über die Zukunft und Lebensaussichten, lockten natürlich
relativ günstige Lebensverhältnisse und Bedingungen zum Dienst an der Grenze. Da war eine gesicherte Verpflegung.
Nur wer damals die Hungerjahre mitgemacht hat, kann das ermessen, wie wichtig das war. Das Gehalt, also die
finanzielle Seite war ebenfalls abgesichert. Wenn auch die Unterkünfte noch sehr dürftig waren, hatte doch jeder
Grenzpolizist ein Dach über den Kopf Teile der damaligen Generation, die von der Schule weg in den Krieg
getrieben wurden, danach ohne Berufsausbildung war und an militärisches Leben gewöhnt, sah die politische Stabilität
der Nachkriegszeit schon gefährdet, und das diente auch als Motiv, um ein erneutes Tragen von Waffen und Uniformen
zu rechtfertigen. Solche Gedanken entwickelte sich aber nicht konfliktlos. Und sie entstanden auch nicht bei jedem.
Bei dem einen oder anderen waren diese Konflikte mitunter auch das Motiv, die Seite zu wechseln und letzten Endes
Verrat zu üben. Doch nach und nach gewann die Einsicht und auch Überzeugung, den antifaschistisch-demokratischen
Neuaufbau schützen zu wollen, die Oberhand.
Später sah das dann alles schon ganz anders aus. Die Grenzpolizei wandelte sich immer mehr zu einer militärische
Truppe, die zum einen die Grenze zu sichern hatte und zum anderen bereit und in der Lage sein musste, bestimmte
Gefechtshandlungen führen zu können. Der Alltag an der Staatsgrenze wurde auch mit der hohen Forderung nach
"ständiger Gefechtsbereitschaft" zusätzlich erschwert und belastet. Die in der Deutschen Grenzpolizei/ Grenztruppe
befohlene "ständige Gefechtsbereitschaft" sah vor, dass 85 % des Personalbestandes immer in den Dienststellen
präsent sein musste, unabhängig von Krankheit, Urlaub oder Kommandierungen. Und der Posteneinsatz rund um
die Uhr an der Grenze - eine Mindestanzahl von Grenzsoldaten musste das unter allen Bedingungen absichern - schuf
komplizierte und erschwerte Dienst- und Lebensbedingungen vor allem in den Grenzkompanien. Es existierten auch
noch andere Faktoren, die zeitweilig wesentlich den Soldatenalltag prägten.
Internationale und koalitionsinterne Krisensituationen, wie z.B.: 17. Juni 1953; Konterevolution, Herbst 1956 in Ungarn;
13. August 1961; Kuba-Krise 1962 und vieles andere.
Auch große militärische Manöver der NATO in der BRD und des Warschauer Vertrages in der DDR und bedeutende
politische Ereignisse in der DDR hatten Auswirkungen auf den Dienst an der Staatsgrenze. Sie waren oft verbunden mit
verstärkter Grenzsicherung, erhöhtem Posteneinsatz und längerem Grenzdienst ( 12-Stundendienst ). Die bis zum Jahre
1961 nicht selten ausgelösten Fahndungen - meist nach Deserteuren der Sowjetarmee - stellten eine nicht geringe
zusätzliche Belastung der Grenzsoldaten dar.
Das hieß immer, in den Schwerpunktrichtungen kamen mehr Grenzposten zum Einsatz, als sonst üblich. Die hier
genannten Faktoren, Umstände und Misslichkeiten waren auch Gründe aus denen Desertionen resultierten.
Die kasernierte Unterbringung der Grenzsoldaten entsprach in der ersten Zeit nicht den Erwartungen und Anforderungen.
Holzbaracken minderer Qualität, eingeschränkte sanitäre Einrichtungen, Mangel an Brennstoffen und kalte Unterkünfte
dämpften die Dienstfreude, führten zur Unlust und schwächten die militärische Disziplin und Ordnung.
Im Berliner Raum nutzte man notgedrungener Weise auch noch alte Kasernen aus der Kaiserzeit, die keineswegs den
neuen Anforderungen an Soldatenunterkünfte entsprachen.
Das führte bei vielen Angehörigen der Grenzpolizei/Grenztruppe zu Missstimmungen, Unzufriedenheit und war mitunter
Ursache oder Anlass für Fahnenfluchten.
Auch die sattsam und unrühmlich bekannte "EK-Bewegung" war Ursache, Motiv oder auch oft Anlass für Fahnenfluchten.
In dem Buch "Was war die NVA?", 2001 Berlin, heißt es dazu: "Die militärische Hierarchie wurde jedoch allmählich durch
eine vor allem von Soldaten getragene Gegenhierarchie untersetzt und in ihren unteren Ebenen teilweise unterlaufen.
Unter dem Namen `EK-Bewegung` etwa seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre bekannt, entwickelte sich eine den drei
Diensthalbjahren folgende Alters-Rangordnung, in der die jeweils dienstältesten Soldaten`Führungsfunktionen`und
Privilegien in den informellen Gruppenstrukturen beanspruchten und mit Hilfe der in einer Zwischen- und Wartestellung
fungierenden Angehörigen des zweiten Diensthalbjahre die Rechte der jüngsten Soldaten beschnitten.
Diesen wurden nicht nur Revierdienste und andere Dienstleistungen zugeordnet und Ausgangsrechte entzogen, sondern
teilweise auch Verstöße gegen die militärische Disziplin (z.B. Alkoholbeschaffung) oder entwürdigende Handlungen
aufgezwungen." Diese Feststellungen trafen im Allgemeinen auch für die Dienst- und Lebensverhältnisse in den
Grenztruppen zu. In den Grenzkompanien dagegen gab es aber nur Soldaten des zweiten und des dritten
Diensthalbjahres. Ungeachtet dessen fanden auch hier in den Einheiten an der Grenze Rituale der "EK" statt. Diese
waren oftmals gemeinster Art und menschenunwürdig, gängelten und drangsalierten die Soldaten hart, und manch
einer der davon Betroffenen, sah nur in der Flucht, in der Desertion einen Ausweg.
Mehr über die EK-Bewegung erfährt man in dem 2001 erschienen Buch GNN Verlag, von Kurt Frotscher, "Grenzdienst
im Kalten Krieg" auf den Seiten 171 bis 178.
Motive und Ursachen für Fahnenfluchten waren ein sehr kompliziertes, differenziertes und schwer zu beseitigendes
Beziehungsgeflecht. Dem entgegenwirkend - mitunter auch nur mit wechselndem Erfolg - stand das System der politisch
-ideologischen Schulung und vor allem der "klassenmäßigen" Erziehung. Die Grenzdienst- und Gefechtsausbildung
disziplinierte die Grenzsoldaten und schuf alle Voraussetzungen, in dem das für die Erfüllung der dienstlichen Pflichten
notwendige Fachwissen und die Kenntnisse vermittelt sowie die entsprechenden militärischen Fähigkeiten und
Fertigkeiten entwickelt wurden. Es ging, wie es damals hieß, um die konsequente Erfüllung des "Klassenauftrages",
es ging um die Erfüllung des Verfassungsauftrages (Verfassung vom 6. April 1968), der im Artikel 7 den Staatsorganen
der DDR, namentlich den Grenztruppen auferlegte, die territoriale Integrität des Staates und die Unverletzlichkeit ihrer
Staatsgrenze zu gewährleisten. Das oberste Gebot war die Einhaltung und Erfüllung des Fahneneides.
Viele Maßnahmen...
...leiteten die Vorgesetzten bis hin zur obersten militärischen Spitze, einschließlich der Abteilung Sicherheit des ZK der
SED bis hin zum Nationalen Verteidigungsrat ein, um Fahnenfluchten zu verhindern. In den Beratungen der
Kommandeure, in den Sitzungen des Militärrates, im Kollegium des Ministeriums für Nationale Verteidigung stand oft das
Thema Fahnenflucht auf der Tagesordnung. Zur weiteren Erhöhung der inneren Sicherheit der Grenztruppen und zur
Verhinderung von Fahnenfluchten fand nach jedem Ausbildungshalbjahr in den Grenzausbildungsregimentern eine
Kommissionierung statt. Sie fußte auf der Anordnung 3, die vom Stellvertreter des Ministers und Chef der Grenztruppen
der DDR erlassen wurde.
Unter Leitung des Stabchefs des jeweiligen Grenzkommandos und in seiner vollen Verantwortung arbeitete eine
Kommission in folgender Zusammensetzung: Stabschefs des Verbandes, Kommandeur des Grenzausbildungsregimentes,
Leiter der Unterabteilung Organisation und Auffüllung des Grenzkommandos, Leiter der Unterabteilung des MfS des
jeweiligen GAR, ein Offizier der Politabteilung und noch weitere Offiziere.
Diese Kommission hatte die Aufgabe, auf der Grundlage der Persönlichkeitseinschätzungen über einen bestimmten Teil
von Grenzsoldaten zu beraten und ihren weiteren dienstlichen Einsatz in den Grenztruppen festzulegen. Es handelte
sich hier um die so genannten "unsicheren Kantonisten". Meist umfasste das 60 bis 100 Mann, wo es Anzeichen oder
auch Bedenken gab, ob ihr Einsatz unmittelbar an der Staatsgrenze zweckmäßig sei oder sie ein gewisses
Sicherheitsrisiko darstellten. Für diese "Kantonisten" existierten besondere Listen.
Die Hauptkriterien umfassten, politische Zuverlässigkeit, Familienverhältnisse, Verwandte im Westen, gesellschaftliche
Aktivität, das Hinterland und die Antwort auf die Frage, "sind sie bereit zur Anwendung der Schusswaffe?".
Wer sich für den Grenzdienst als nicht geeignet erwies, kam zu den Stabseinheiten - im Grenzkommando Mitte zu den
Artillerieeinheiten - in Baukompanien oder als Personal auf Übungsplätze. Ein Austausch mit den Landstreitkräften der
NVA war aus verschiedenen Gründen nicht möglich. So das die Verwendung dieser Soldaten der Kommission mitunter
arges Kopfzerbrechen bereitete.
Wichtig aber oft formal, waren hier die monatlichen Einschätzungen der Zugführer und der Kompaniechefs und
besonders die individuellen Wertungen der Verbindungsoffiziere des MfS. Von dieser Kategorie von "Sicherheitsrisiken"
sind später durch Personalmangel bedingt und Austausch aus der Linie viele von ihnen trotz allem im Grenzdienst
eingesetzt worden. Ironie des Schicksals. Desertionen traten bei diesen Soldaten kaum auf.
Auch im Ministerium für Staatssicherheit, vornehmlich in der Hauptabteilung I ( Militärabwehr ), befasste man sich
mit der Problematik der Fahnenfluchten. Diese Hauptabteilung war zuständig unter anderem für die Bearbeitung,
Aufklärung und Untersuchung von schweren Militärstraftaten und besonderen Vorkommnissen wie Fahnenflucht
(Desertion) und dem Verrat militärischer Geheimnisse. Vor allem trug sie die Verantwortung in der
schadensverhütenden Tätigkeit.
In der NVA und in den Grenztruppen existierte - wie im Gegensatz zu vielen anderen Armeen keine Militärpolizei.
Deshalb gab es bei einigen Militärstraftaten und ernsteren Disziplinverletzungen, wie unerlaubte Entfernung von der
Truppe und Fahnenflucht, Handlungsbedarf für die Mitarbeiter der Militärabwehr. Gemeinsam mit der
Militärstaatsanwaltschaft und den Kommandeuren wirkten sie eng zusammen. Im Mittelpunkt der Arbeit der Mitarbeiter
der HA I stand die vorbeugende schadensverhütende Tätigkeit. Diese konzentrierte sich vor allen Dingen auf das
Aufdecken von Missständen und Mängeln, die eventuellen Militärstraftaten und groben Disziplinverletzungen Vorschub
leisteten. Zu den vorrangigen Aufgaben der Mitarbeiter in den Truppenteilen und Verbänden gehörte die gründliche
Auswertung solcher über inoffizielle und offizielle Quellen gewonnener Erkenntnisse mit den Kommandeuren und
Politorganen. So machte man Angehörige der Grenztruppen auf Fehlverhalten aufmerksam und konnte sie von
Handlungen und Vergehen abhalten, die möglicherweise zu disziplinarischen oder gar strafrechtlichen Folgen geführt
hätten. Dieses Bestreben der Mitarbeiter der Militärabwehr des MfS, Grenzsoldaten durch frühzeitiges Eingreifen vor
Straftaten zu bewahren, sie daran zu hindern mit den Gesetzen der DDR in Konflikt zu geraten, war beredter Ausdruck
ihrer sozialistischen Erziehung und humanistischer Grundhaltung.
Ob man es nun wahrhaben will oder nicht. Das waren tausendmal verbriefte Tatsachen, die alles Gerede und Geschwätz,
alle Verleumdungen über flächendeckende Beobachtung und Spitzelein ad absurdum führen. Die Abteilung Äußere
Abwehr der HA I bearbeitete die Fahnenfluchtverbrechen und die besonders schweren Fahnenfluchten. Sie organisierte
die Rückführung von fahnenflüchtigen Geheimnisträgern (Fall Rauschenbach). Dabei wurden sie von Verwandten und
Bekannten der Flüchtigen unterstützt, um so den weiteren Verrat an westliche Geheimdienste zu verhindern. Diese
Mitarbeiter führten auch operative Kontrollen von Deserteuren durch, um etwaige noch bestehende Kontakte und
Verbindungen zur ehemaligen Dienststelle und deren Ausnutzung durch Geheimdienste zu unterbinden.
Die Äußere Abwehr klärte Agentenorganisationen und andere Einrichtungen in der BRD und in Westberlin auf, die
fahnenflüchtige Grenztruppenangehörige unterstützten, betreuten und auch organisierten, um diese in die subversive,
feindliche Arbeit gegen die DDR einzubeziehen. Das waren unter anderen die "Arbeitsgemeinschaft 13. August"
in Westberlin und die "Deutsche Gesellschaft für Sozialbeziehungen e.V. in der BRD.
Den größten Augenmerk richtete die HA I in den Grenztruppen auf die Verhinderung von Fahnenfluchten. Alle inoffiziell
gewonnenen Informationen und Erkenntnisse die auf ein derartiges Militärverbrechen schließen ließen oder auch andere
Anzeichen dafür, werteten die Mitarbeiter des MfS mit den zuständigen Kommandeuren und deren Politstellvertretern
aus. Diese wiederum leiteten ihrerseits geeignete Maßnahmen ein, um die begünstigende Umstände und Bedingungen
für Fahnenfluchten zu beseitigen.
Waren vorhandene IM in der Lage, erhielten sie einen Personen bezogenen Auftrag, den Grenzsoldaten bei der Lösung
persönlicher oder auch dienstlicher Konflikte zu helfen. Außerdem waren sie angehalten im jeweiligen militärischem
Kollektiv an der Beseitigung von Störungen und Differenzen in den zwischenmenschlichen Beziehungen und anderen
negativ wirkenden Erscheinungen aktiv mitzuwirken.
In den Grenztruppen spielte das Vertrauensverhältnis eine sehr große Rolle. Erinnert sei hier, "auf den zweiten Mann
kommt es an".Misstrauen zahlte sich nicht aus und konnte tödlich sein. Das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und
Unterstellten musste einwandfrei funktionieren, Störungen hatten mitunter große negative Auswirkungen. Es stand auch
immer die Frage, jeder Grenzsoldat konnte mit einem Schritt über die Grenzlinie Fahnenflucht begehen. Deshalb war
ständig ein hohes Niveau des politisch-moralischen Zustandes vor allem in den unmittelbar grenzsichernden Einheiten
zu gewährleisten.
Die persönlichen politischen Gespräche - eingeschlossen die Probleme der Familie - waren hier unerlässlich.
Sei es die Gruppenführer, die Zugführer und die Kompaniechefs und ihre Stellvertreter trugen hier eine immens große
Verantwortung. Das konnte ihnen keiner nehmen, dem mussten sie sich täglich stellen.
Das MfS war ständig dabei
Aus eigener Erfahrung kann ich hier berichten, die Mitarbeiter des MfS mischten immer mit. Im Truppendienst
hatten wir es häufig mit den VO, den Verbindungsoffizieren des MfS zu tun. Sie kümmerten sich eigentlich um alles:
die Dienstplanung; den Posteneinsatz; Stand der Ordnung und Disziplin; die Verpflegung und nicht zuletzt die
Stimmung unter den Grenzsoldaten. Vieles erfuhren sie von ihren Informanten und als Vorgesetzter bekam man nach
einiger Zeit schon mit,wer diese Leute waren. Mich störten sie nicht. Sie waren um der Sicherheit willen notwendig
und halfen auf ihre Art, unsere Aufgaben zu erfüllen. Das manchmal dabei auch Typen waren, die fies und für mich
nicht gerade vertrauenerweckend erschienen, nahm ich hin. Wer weiß, zu was die Nutze waren? Auch mit uns
Vorgesetzten tauschten sich die VO aus. Dabei hatte ich oft den Eindruck, sie waren gar nicht zu sehr an den offiziellen
Informationen interessiert. Doch mit anderen konnte ich ihnen nicht dienen. Wahrscheinlich deshalb suchten mich die
VO nur selten auf. Während meines direkten Dienstes in der Truppe an der Grenze hatte ich mit einigen Fahnenfluchten
unmittelbar zu tun. Ich machte dabei die Erfahrung, nicht in einem einzigen Fall bekam mein Kommandeur und ich als
sein Politstellvertreter, auch nur den kleinsten Hinweis auf den Verdacht auf Desertion. Die Mitarbeiter vom MfS
waren genau so überrascht wie wir als Vorgesetzte.
Oft waren die Verräter Menschen, denen man diese Verbrechen nie zugetraut hätte. Nach meinen Kenntnissen haben
auch andere Offiziere der Grenztruppen solche Erfahrungen gemacht. Nun kann natürlich mein Gesichtskreis meiner
Erfahrungen sicher nicht verallgemeinert werden. Auch Horst Jüttner sammelte so seine Erfahrungen und Erkenntnisse,
die er in seinem Buch "Grenzalarm" notierte (Seite 72 bis 75): Es wurden immer wieder von der militärischen Führung
Maßnahmen festgelegt, um ... Fahnenfluchten zu verhindern. Dazu gehörten Personalanalysen, in denen die
Vertrauenswürdigkeit jedes Einzelnen beurteilt und vom Zugführer gemeldet wurde. Die Zugführer sollten detaillierte
Kenntnisse über die Familiensituation und politische Haltung jedes Soldaten besitzen. Gab es Unklarheiten, wurden
Aussprachen geführt.
Der Kompaniechef führte Buch über jeden Einzelnen. Hinter jedem Namen war mit Farbe vermerkt: gefestigt, nicht
ganz geklärt, unsicher... Zwei unsicher Kantonisten durften nie zusammen auf Posten gehen. Als ein Soldat nach
dem Urlaub fahnenflüchtig war, wurden Urlauberaussprachen sofort nach Rückkehr angeordnet. Dabei sollten nach
Problemen zu Hause gesucht werden, ob es Westkontakte und ähnliches gegeben habe, was eventuell zu einer
Desertion Richtung Westenführen konnte... Zeitweilig wurden nur Dreierposten eingesetzt. Besonders an ungesperrten
Grenzabschnitten, beispielsweise ander zugefrorenen Elbe. Das war aber auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Im
Raum Lenzen fehlten eines Morgens zwei Soldaten. Den Dritten fand man gefesselt im Schnee. Er hatte es vorgezogen,
auf diese Weise und nicht mit einer Kugel im Rücken als Grenzer zu enden. Das war im Jahr 1963. Vergleichbare Vorfälle
gab es dutzendfach.
Die Mitarbeiter der Abwehr unternahmen alles, um `Fluchtwillige` ausfindig zu machen und damit den letzten Schritt
zu verhindern. In Gothmann - ich war als Diensthabender anwesend - erschien gegen Mitternacht der Mitarbeiter des
MfS vom Bataillon und nahm einen Soldaten mit. Innerhalb weniger Minuten musste er seine Sachen packen. Er wurde
an die Oder, also an die Ostgrenze versetzt, wie ich später erfuhr, weil er fahnenflüchtig werden wollte. Ob dies zutraf,
weiß vermutlich nur er. Denn auch hier wurde denunziert. Als ich Jahre später in der gleichen Kompanie Politunterricht
durchführte, fiel ein Soldat durch unflätige Bemerkungen auf. Bei jedem Satz, den einer sagte, einschließlich meiner
Person, rief er `alles Quatsch`, `nur Propaganda`, `stimmt gar nicht`. `Wenn Sie etwas sagen möchten, dann melden
Sie sich wie jeder andere auch`, wies ich ihn zurecht. Als das nicht fruchtete, warf ich ihn raus. In der Pause bat mich
der KC in sein Dienstzimmer. Dort waren der Bataillonskommandeur und der Mitarbeiter MfS anwesend.
Ich wurde aufgeklärt, dass ich ihren agent provocateur des Raumes verwiesen hätte, was natürlich ein Fehler war.
`Wie sollen wir die Banditen, die fahnenflüchtig werden wollen, herausfinden?`
Solche Praxis ließ das Misstrauen untereinander spürbar wachsen. Schon bei geringster Urlaubs- und
Ausgangsüberschreitung entstand der Verdacht auf Fahnenflucht. Argwohn führte zu alber- nen Reaktionen mit oft
verheerenden Folgen..." Diese Art und Weise der Arbeit der Abwehr war natürlich nicht dazu angetan, Vertrauen zu
verbreiten oder gar Fluchtwillige zu entdecken.
Das war primitiv und zeugte nicht von einer intelligenten Abwehrarbeit. Der VO hätte vielmehr erst einmal seine
Schulaufgaben machen sollen.
Noch einmal Horst Jüttner: "Offiziere und Unteroffiziere, denen man nicht traute, wurden in Ausbildungsregimenter
versetzt. In Glöwen diente ein Kompaniechef, zuletzt im Dienstgrad Major, der, wenn die Kompanie zum Grenzeinsatz
ging, nicht mit hinaus durfte. Er war vom MfS nicht bestätigt worden. Das erwies sich später als Empfehlung. Nach
der Wende diente er beim Bundesgrenzschutz. Er wurde Kommissar und bewachte zeitweilig das Bundeskanzleramt
in Berlin..."
Die Mitarbeiter des MfS in den Grenztruppen hatten weitgehende Befugnisse unter anderem auch zur Einsichtnahme
in Führungsdokumente für die Organisation und die Planung des Grenzdienstes und der Grenzsicherung. In gewisser
Hinsicht besaßen sie auch Weisungsbefugnisse. So wurde die unter Verantwortung des Kompaniechefs durchzuführende
Postenplanung - die bis zur Vergatterung der Geheimhaltung unterlag - erst rechtskräftig, nach dem der Mitarbeiter des
MfS diese bestätigt hatte. Dieser, aus seinen inoffiziellen Quellen schöpfend, prüfte die Postenpaarung. Dabei filterte er
Schwachpunkte heraus und schlug Veränderungen für die Zusammensetzung des Grenzpostens vor. Er prüfte, ob die
für die bekannten Schwerpunkte einzusetzenden Grenzsoldaten für diesen dienstlichen Einsatz geeignet, das hieß,
politisch zuverlässig waren. Auch der Besetzung bestimmter dienstlicher Funktionen, wie z.B. Nachrichtenleute,
Pionierkräfte und andere wichtige Spezialisten mussten vom MfS zugestimmt werden. Natürlich wurden vor allem die
Offiziere, die in exponierter Stellung tätig waren, einer regelmäßigen persönlichen Sicherheitskontrolle unterzogen. Das
war allgemein bekannt, und keiner nahm Anstoß daran. An wichtigen Dienstbesprechungen in den Stäben der
Truppenteile und Verbände nahmen oft Mitarbeiter der HA I teil. Sie brachten oft ihre Meinung dabei zum
Ausdruck und gaben Empfehlungen. Im Militärrat der Grenztruppen sowie in den Kollegiumssitzungen des Ministerium
waren ständig leitende Offiziere der HA I zugegen. Befehlsgewalt übten die Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit
nicht aus. Aus ihrer Sicht legten sie ihren Standpunkt dar, gaben Hinweise und Ratschläge und schlugen Maßnahmen
zur Erhöhung der Sicherheit und zur Verhinderung von Fahnenfluchten oder anderer Militärverbrechen vor.
Ein Gespenst geht um
Wenn man sich mit der Problematik Fahnenflucht befasst, kommt man nicht umhin, auch darüber zu berichten, was für
Auswirkungen solch ein Verbrechen in der Truppe hatte. Geschah in einer Einheit eine Desertion, setzte vor allem in
den 50er Jahren ein heilloser Wirbel ein. Je nach Schwere, Einzel- oder Gruppendesertion, suchten Kontrollgruppen der
vorsetzten Dienststellen die betreffende Einheit heim. Man konnte wahrlich da von einer Heimsuchung sprechen. Da
wurde das Unterste nach Oben gekehrt, innere Ordnung, der Zustand der Disziplin, die regelmäßige Teilnahme an der
politischen Schulung und den Politinformationen, persönliche Aussprachen mit dem Täter vor seiner Flucht, alles wurde
kontrolliert und inspiziert. An der betroffenen Grenzkompanie wurde kein guter Faden mehr gelassen. Den Kompaniechef
und seinen Politstellvertreter prüfte man ob ihrer Eignung für die Dienststellung. Vor allem die dienstliche Auslastung der
Soldaten wurde auf die Stunde genau nachgerechnet. Kontrolle des Spindes des Täters, seine Briefschaften - soweit
noch vorhanden - das und noch vieles mehr wurde in kritischen Augenschein genommen. Im sozialistischen Wettbewerb
rangierte diese Kompanie natürlich an letzter Stelle.
Es war, als, ob diese Einheit vom Zeitpunkt der Fahnenflucht an, das Kainsmal des Verbrechens trug. Auf alle Fälle
wurde ein Schuldiger oder auch Schuldige gesucht. Und wie konnte es auch anders sein, es wurden immer welche
gefunden. An erster Stelle war natürlich der Täter der Schuldige. Aber da begann es auch schon. Gab es irgendwelche
Bedingungen oder Umstände die diesem Verbrechen eventuellen Vorschub leisteten, wer trug dafür die Verantwortung?
Nach der Auswertung hagelte es meist Disziplinarstrafen. Oft wurden auch noch Parteistrafen verhängt. Meist traf es die
Kompaniechefs und deren Stellvertreter für politische Arbeit. Diese Offiziere konnten sich auch noch so angestrengt haben,
Fehler, Schwächen und Mängel fand man immer. Ich kannte Kompaniechefs, die schlichen nur noch wie geprügelte Hunde
umher. Der damalige Mangel an geeigneten Offizieren verbot es nahezu, diese aus ihren Dienststellungen abzulösen.
Sicher waren einige unter ihnen, die für diesen Dienst nicht geschaffen waren und die Erfüllung der politischen und
militärischen Aufgaben diese überforderte. Doch die meisten, waren treue, der Sache ergebene Offiziere. Sie waren
ehrliche Parteimitglieder und Kommunisten. Auch mich traf damals dieses Schicksal. Einige Verwarnungen und auch
Disziplinarstrafen handelte ich mir ein. Das Schlimmste aber war, dass mir politische Blindheit vorgeworfen wurde.
Folgendes war geschehen. Ein Stabsgefreiter der Grenzkompanie Kleinmachow/West war vom Ausgang nicht
zurückgekehrt. Er war einer der besten Postenführer seiner Einheit. Er hatte bereits vier Jahre treu und ehrlich gedient
und sein fünftes Dienstjahr dauerte nur noch ein paar Wochen. Der Politstellvertreter der Grenzpolizeibereitschaft
Blankenfelde wollte mir perdu eine Desertion einreden. Ich weigerte mich beharrlich, dieses anzuerkennen.
In Dienstbesprechungen der Politabteilung musste ich mehrmals Rede und Antwort stehen. Major M. warf mir dann
schließlich politische Blindheit und Versöhnlertum vor. Mir fehlte es am Klassenstandpunkt, war seine unumstößliche
Meinung. Das war damals schon ein dicker Brocken. Einige sehr dienstbeflissene Politoffiziere meideten sofort den
persönlichen Umgang mit mir. Damit konnte ich leben. Doch mangelnder Klassenstandpunkt kam damals nahezu einem
politischen Todesurteil gleich. Acht Wochen später erhielten wir die Meldung, an der Kleinmachnower Schleuse sei
ein toter Grenzsoldat angetrieben worden. Es war der vermisste Stabsgefreiter, der nach seinem Ausgang, den Weg
abkürzen wollte und im Eis des Kleinmachnower Sees eingebrochen und ertrunken war. Mein Kommandeur und ich
hatten recht behalten. Doch was für eine makabre Genugtuung. Es herrschte eine wahre Desertionshysterie. Es schien,
als ob ein Gespenst umher gehen würde. Fast überall begegnete man Misstrauen. Viele Vorgesetzte witterten auch nur
beim kleinsten Anlass Verrat.
Unter diesen Bedingungen war besonders die politisch-ideologische Arbeit äußerst schwierig. Sie verlangte viel
Fingerspitzengefühlt, Aufrichtigkeit und ehrliche Antworten auf alle auftauchende Fragen der Grenzsoldaten. Mit
politischen Klischees, abgedroschenen Phrasen und nur den Schlagzeilen und Leitartikeln des "Neuen Deutschland" war
da nicht viel zu erreichen. Auch von den Vorgesetzten wurde viel verlangt. Die Bereitschaft, Verantwortung für die
Unterstellten zu übernehmen, mit ihnen den täglichen Grenzdienst durchzuführen, war schon keine leichte Sache.
Meine Hauptaufgabe als Politoffizier sah ich vor allem in der individuellen Arbeit. Dabei versuchte ich, alle Vorgesetzte
einzubeziehen. Mein Ziel war es, die mir unterstellten Grenzsoldaten gründlich zu kennen, mich ihrer Sorgen und
Fragen anzunehmen, stets wissen, wo ihnen der Schuh drückte und letzten Endes versuchen, eine gute Vertrauensbasis
aufzubauen. Das war zwar nicht immer leicht, doch der Erfolg rechtfertigte schließlich die Mühe.
In seinem Buch "...allzeit treu zu dienen", Amicus Verlag 2007, Seite 85: schildert der ehemalige Major der Grenztruppen
der DDR R.Lehmann seine Erfahrungen mit Fahnenfluchten "...ich fand mich im September 1961 als Zugführer in der
Grenzkompanie Schnellmannshausen wieder... Das ständige Zusammenleben und die Ausbildung der Unteroffiziere und
Soldaten meines Zuges zahlten sich aus. Es war mir gelungen, den Leistungswillen des ganzen Kollektivs zu mobilisieren.
Zum Ende des Ausbildungsjahres wurde der 1. Zug als bester Zug des Grenzbataillons ausgezeichnet." Danach "... am
3. Januar sollte ich im Stab des Grenzregiments - 1 in Mühlhausen eine Auszeichnung entgegen nehmen.
Nach den ständigen Prügeln während meiner Politlaufbahn ein völlig neues Gefühl. "... Und dann traf mich, der ich auf
Lob und Anerkennung eingestellt war, ein Donnerwetter aller erster Güte. Nur ganz langsam begriff ich, was geschehen
war.
Die Grenzkompanie Schnellmannshausen hatte eine Fahnenflucht, und ich hatte in Abwesenheit des Kompaniechefs
über den Jahreswechsel die Einheit geführt. Prost Mahlzeit, die Auszeichnung! Was war geschehen?
Im Abschnitt Heldrastein der Grenzkompanie Schnellmannshausen wurden ab dem 3. Januar Waldarbeiten zur
Vorbereitung der Trasse für den Bau der Sperranlagen durchgeführt... Um die Sicherung zu gewährleisten hatten wir
am Vortag einige neue Soldaten dazu versetzt bekommen, und einer von denen hatte sich schon wenige Minuten nach
dem Eintreffen im Abschnitt `abgesetzt`. Blieb die Frage der Verantwortung, und da beißen bekanntlich die Hunde
immer den Letzten.
Die Vorgesetzten meinten, bei einer gründlichen Aussprache vor dem Einsatz hätte die Gefahr erkannt werden müssen.
Ich erwiderte, die früheren Vorgesetzten hätten wissen müssen, wen sie zu einem solchen Einsatz kommandieren. Recht
behielten die Vorgesetzten, und statt der erwarteten Anerkennung bekam ich eine Disziplinarstrafe. Dies war der einzige
Fall in meiner gesamten Dienstzeit, wo ich persönlich Verantwortung trug für eine Fahnenflucht. Später als Offizier im
Regimentsstab, war ich dann eher an den fälligen Untersuchungen beteiligt. Dabei wurde unterschieden zwischen
Ursachen und begünstigenden Umständen."
Zu diesen Ursachen und begünstigenden Umständen äußerte sich der Autor wie folgt. "Zu den Ursachen zählten, so weit
ich mich erinnere, überwiegend Probleme in der Persönlichkeit des Fahnenflüchtigen. Da waren die Soldaten, die bereits
während der Schul- und Ausbildungszeit auf eine Musterung zur Grenztruppe hin arbeiteten, um die erste sich bietende
Gelegenheit zur Desertion zu nutzen. Aus diesem Kreis kamen überwiegend auch die Kameradenmörder die sich ihre
Flucht mit dem Tode eines Kameraden erzwangen. Da in der Bundesrepublik das Rechtsgut Freiheit, zumindest in diesen
Fällen, höher eingeordnet wurde als das Leben eines DDR-Grenzers, waren die zu erwartenden Strafen meist sehr gering.
Die weitaus meisten Fälle von Fahnenfluchten wie auch von Suiziden entwickelten sich aus ungelösten Konflikten.
Das konnten familiäre Probleme sein, die sich aus dem harten Dienst und, vor allem in den ersten Jahren nach Einführung
der Wehrpflicht in den Grenztruppen, aus dem seltenen Urlaub ergaben. Wenn dann ein Grenzer zusätzlich zu seinem
Quartalsurlaub, vielleicht im Rahmen einer Auszeichnung, Sonderurlaub erhielt und plötzlich unangemeldet daheim in der
Tür stand, konnte es schon zu Problemen kommen. Auch, wenn einzelne Vorgesetzte den Bogen der Belastungen
überspannten, keine Rücksicht auf die Rechte der Unterstellten nahmen oder ganz einfach das Klima in der Einheit nicht
stimmte, kam es zu Kurzschlusshandlungen.
Eine weitere oft unterschätzte, weil an der Oberfläche nicht sichtbare, Ursache vielfältiger Konflikte und Vorkommnisse
war die EK-Bewegung... Neben den hier beispielhaften genannten Ursachen, deren es natürlich auch noch weitere gab,
mussten in jedem Fall begünstigende Umstände vorhanden sein. Oft wurden durch die Einheitskommandeure formal-
organisatorische Gründe vorgeschoben. Da gab es Diskrepanzen zwischen der Zahl der befohlenen Grenzposten und der
Personalstärke oder es fehlten die erforderlichen Vorgesetzten. Bezog man aber den gesamten Personalbestand in die
Untersuchung ein und gewann das Vertrauen der Soldaten und Unteroffiziere, zeigten sich meist völlig andere
Zusammenhänge. Letztlich waren es fast immer gestörte Beziehungen zwischen den Dienstgradgruppen." In seiner
Einschätzung legte Major a.D. Lehmann seine Finger auf die Wunde, die da hieß, Erfahrungen der Offiziere in der
Erziehungsarbeit und Aufbau einer gesunden Vertrauensbasis.
"Und es gab Zusammenhänge mit dem Dienstalter der Kompaniechefs. Die Alten, die noch aus der Grenzpolizei kamen,
hatten meist ein sehr kameradschaftliches Verhältnis zu den Unterstellten und forderten das auch von den übrigen
Vorgesetzten.
Oft hatten sie selbst von der Pike an gedient und wussten, dass man hohe Forderungen nur durchsetzen kann, wenn
man kameradschaftlich, offen und gerecht ist und mit persönlichem Beispiel voran geht. Leider wurden diese Spezies
bemooster Grenzer immer öfter durch junge, ehrgeizige und tatendurstige Absolventen von Offiziershochschulen ersetzt.
Hoch gebildet, aber ohne Lebenserfahrung kamen sie mit den Anforderungen des Grenzeralltags nicht zurecht und
versuchten, die Forderungen der Befehle mit administrativen Mitteln durchzusetzen. Das wäre in den Kasernen und auf
den Truppenübungsplätzen der Landstreitkräfte, beim Einsatz geschlossener Einheiten vielleicht noch möglich gewesen.
An der Grenze, wo die Tage überfüllt waren mit Grenzdienst, Alarmbereitschaft und Ausbildung, wo der Schlaf knapp war
und Freizeit absolute Mangelware, wo Postenpaare allein auf sich gestellt ihren Kampfauftrag zu erfüllen hatten, galten
andere Gesetze. Da bekam das Wort vom Frontdienst in Friedenszeiten seine Bedeutung."
.
Lassen wir in diesem Zusammehang noch einen weiteren Zeitzeugen zu Wort kommen. Kurt Frotscher schrieb in seinem
Buch "Einer aus dem Osten" GNN Verlag 1999, Seite 105: "Im Grenzerleben gehörten zwar die Fahnenfluchten nicht zu
den alltäglichenErscheinungen, aber sie saßen uns Offizieren immer drohend im Nacken und erfolgten in verhältnismäßig
zu großer Anzahl...Fahnenfluchten standen an erster Stelle der Liste von besonderen Vorkommnissen und im Widerspruch
zur propagierten These von der stetig wachsenden Verbundenheit zum Sozialismus. Dieses Phänomen allein damit zu
begründen, die westlichen Einflüsse seien Schuld gewesen oder die leichtere Integration durch Deutschsprachigkeit,
kulturelle und verwandtschaftlichen Bindungen zur anderen Seite der Staatsgrenze, wäre zu einfach und zu oberflächlich.
Kaum ein Kompanieoffizier, der einige Jahre an der Grenze diente, blieb von Bestrafungen verschont, die aufgrund
von Fahnenfluchten ausgesprochen wurden.
Ihre Untersuchung reduzierte sich meist auf Details, besonders die Methoden ihrer Vorbereitung und den Ablauf ihrer
Ausführung. Daher fanden Untersuchungskommissionen stets `objektive und subjektive` Ursachen, die zu
Fahnenfluchten führten. Da meist politische Motive bereits im vorhinein feststanden, konzentrierte sich die Suche der
Kommission darauf, Mängel in der Ausbildung und Durchsetzung von Dienstvorschriften zu finden. Ich weiß, wovon ich
schreibe, denn ich war Betroffener wie Untersuchender. Wehe dem Vorgesetzten, dessen Fahnenflüchtiger, aus welchen
Gründen auch immer, ein paar Mal nicht am Politunterricht oder der aktuell-politische Information teilgenommen hatte...
Ich fand... keinen Trost in der Tatsache, dass ein Teil der Fahnenflüchtigen zurückkehrte, obwohl sie mit Strafverfolgung
rechnen mussten, auch wenn sie ohne Dienstwaffe flüchteten. Sie wurden von mindestens vier Geheimdiensten verhört,
und jeder Flüchtling gab sich sicher Mühe, anerkannt zu werden." Mit der Verbesserung der Wirksamkeit der
Grenzsicherung, des pionier- und nachrichtentechnischen Ausbaues und der zunehmenden Erfahrung in der Verhütung
derartiger Vorkommnisse ging dann auch die Zahl der Desertionen zurück. Vor allem die weitere Entwicklung und
Verbesserung der politisch-ideologischen Arbeit in der Truppe stabilisierte den politisch-moralischen Zustand. Doch eines
blieb: Die Zahl der Fahnenfluchten hing auch immer mit dem Stand der gesellschaftspolitischen Entwicklung und der
konkreten politischen Großwetterlage in der DDR zusammen.
In der späteren Zeit trat in der Behandlung von Desertionen deren Verhinderung und Untersuchung eine gewisse
Sachlichkeit ein.
Von Einzelfällen einmal abgesehen, wurde jede Fahnenflucht nach wie vorpeinlich genau untersucht.
Diese Straftaten wertete man sachlich und gewissenhaft aus, zog allgemeingültige Schlussfolgerungen und befahl,
bestimmte aufgedeckte Mängel und Fehler schnellstens zu beseitigen. Wo dieses nicht gleich möglich war, wurden
langfristige Maßnahmen zur Veränderung des Zustandes eingeleitet.
An der Untersuchung dieser Militärstraftaten waren meist die Kommandeure oder ihre Stellvertreter neben Offizieren
der Politorgane und anderer militärischer Bereiche, Vertreter der HA I des MfS und Militärstaatsanwälte beteiligt.
Es fanden auch öffentliche Gerichtsprozesse in den Dienstsstellen gegen ehemalige Angehörige der Grenztruppen statt.
Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere waren die Zuschauer. Das diente der Abschreckung.
"Verrat und Mord, sie hielten stets zusammen",
das lässt der Dichter Shakespeare in seinem Drama "König Heinrich" sagen. Wahrlich, das lässt sich auch
beweisen mit den Morden und Tötungsverbrechen, wo sich Fahnenflüchtige ihren Weg in den "goldenen Westen in die `
westliche Freiheit`" durch feigen, hinterhältigen Mord bahnten. Dieses dunkle Kapitel der Geschichte der Grenztruppen
birgt tragische Momente in sich, die Einblicke in menschliche Abgründe geben.
Unter den vielen Deserteuren, waren 11 Mörder, die mit Anwendung von brutaler Gewalt fahnenflüchtig wurden.
Diese Täterbezeichnung kann man hier in diesen Fällen mit Fug und Recht anwenden. Auch wenn der eine oder andere
von bundesrepublikanischen Gerichten - aus durchsichtigen, aktuellen politischen Gründen - wegen Totschlags zu meist
geringfügigen Strafen verurteilt wurden. Ein Tatbestandsmerkmal für Mord sind niedrige Beweggründe. Und diese waren
in allen Fällen gegeben. Die Täter waren unter anderem Böhme, Bunge, Decker, Gundel, Höhne, Jablonsiki, Kinzel,
Köpke,Trübe und Weinhold.
Einiges zu diesen Tätern (Genaueres über den Tathergang und die Opfer kann man im Buch
"Opfer deutscher Teilung - Beim Grenzschutz getötet" von Frotscher/Liebig GNN Verlag 2005, nachlesen).
Anfang der 50er Jahre erschoss der ehemalige Grenzpolizist und Deserteur Leo Köpke hinterrücks und brutal den
Wachtmeister Siegfried Apportin. Der Täter flüchtete in die BRD und gab dort seine Tat zu. Dieses Verbrechen blieb
trotzdem im Westen straffrei. Den Oberwachtmeister Ulrich Krohn trafen die Mordschüsse am 16.Mai 1952, abgegeben
aus nächster Nähe in den Rücken. Der Mörder war der Deserteur Trübe, der nach seiner Tat in die BRD flüchtete. Er
raubte dem Opfer Armbanduhr und die Geldbörse mit ca. 200 Mark Gehalt vom Vortag. Es war Raubmord.
Die Staatsanwaltschaft der DDR übermittelte den westdeutschen Behörden bis zum Jahre 1959 mehrere
Auslieferungsersuchen, die alle unbeantwortet blieben. Offenbar verweigerte die BRD-Justiz die Strafverfolgung in der
DDR aus politischen Gründen und benutzte dies als Waffe im Kalten Krieg. War das nicht auch eine Aufforderung an
Provokateure, Deserteure und anderes Gesindel: Mord an DDR-Grenzern wird im Westen nicht strafrechtlich verfolgt?
Ging es in diesen beiden Fällen den Tätern nur um ihre eigene Desertion, um ihren persönlichen Verrat an der Sache,
zu der sie sich beim Eintritt in die Grenzpolizei freiwillig verpflichtet hatten? Wollten sie sich wirklich nur ihrer
Dienstpflicht entziehen, so wäre ihnen das jederzeit möglich gewesen.
Die damals noch offene Grenze bot sich den Verrätern ja direkt an. Das kann es also nicht gewesen sein. Im Buch
"Opfer deutscher Teilung" kann man lesen: "Warum töteten sie dennoch ihre Kameraden? Wollten die Täter ihre
Kameraden auch zur Desertion bewegen, erwarteten sie etwa Kopfgeld für den zweiten Mann? Mordeten sie deshalb,
weil ihre verbrecherischen Absichten auf entschiedenen Widerstand stießen? Fürchteten die Mörder - unzweifelhaft ging
es hier um den Tatbestand Mord - das Aufdecken ihres schändlichen Delikts? Töteten sie deshalb, damit ihre Opfer
nichts aussagen konnten?
Weshalb zog man die Täter in der Bundesrepublik Deutschland nicht zur Verantwortung? Wollte man die etwaigen
Hintermänner im Dunklen belassen? Welche politischen Absichten steckten dahinter? Fragen über Fragen!
Eines steht fest: Die Täter schwiegen aus wohlweißlichen Gründen, und die Opfer konnten auch nichts mehr sagen.
Wenn es im Fall Krohn sogar ein Raubmord war, dem sicher auch kriminelle Motive zugrunde lagen, so kann man bei
beiden Verbrechen gewisse, politische Gründe nicht so ohne weiteres von der Hand weisen."
Am 18. April fand der Gefreite Jörgen Schmidtchen in der Nähe von Kohlhasenbrück an der Grenze zu Westberlin seinen
Tod. Seit zwei Tagen waren die Offiziersschüler der NVA Böhme und Gundel aus der Flakausbildungsschule Stahnsdorf
fahnenflüchtig. Sie waren im Besitz von zwei Pistolen mit 96 Schuss Munition. Sie hatten die feste Absicht, sich notfalls
den Weg nach Westberlin freizuschießen.
In einer GVS-Sache an den Minister für Nationale Verteidigung stand. "Beim gewaltsamen Grenzdurchbruch am
Gleisdreieck Griebnitzsee wurden beide gestellt und Böhme bei einer von den Banditen begonnenen Schießerei getötet.
Der Postenführer Gefreiter Schmidtchen fand bei der Verhinderung des gewaltsamen Grenzdurchbruchs den Tod."
Der Fahnenflüchtige Gundel konnte nach Westberlin entkommen. Der Gefreite Manfred Weiss erlag am 19. Mai 1962
den tödlichen Schüssen, die der Soldat Günter Jablonski hinterrücks, aus niederen Beweggründen abgab.
Im westdeutschen "Weserkurier" hieß es dann dazu. "Der 18 jährige benutzte die Gelegenheit, seinem ahnungslosen
Begleiter von hinten eine Geschossgarbe aus der Maschinenpistole in den Rücken zu feuern. Als Motiv für seine Flucht
gab er an, dass ihm der Dienst bei seiner Einheit zu langweilig und das Essen zu schlecht gewesen sei." Dafür einen Mord?
Welch ein Abgrund. Der Deserteur wurde dann vom Landgericht Schweinfurth/Bayern zu einer Jugendstrafe verurteilt.
Welch ein Hohn. Er lebte in Salzdetfurth, wurde dort wegen versuchter Erpressung straffällig und erhielt eine weitere
gerichtliche Strafe. Auf der Transitstrecke BRD Westberlin nahmen ihn die DDR-Behörden fest. Am 12. Juni 1979, siebzehn
Jahre nach der Tötung des Gefreiten Weiss verurteilte das Militärobergericht Berlin Jablonski wegen Mordes zu
lebenslangem Freiheitsentzug.
Ich hatte die Gelegenheit an diesem Prozess teilzunehmen. Mehrer Tage dauerte die Hauptverhandlung. Kriminalistische
Tatortbefunde, Zeugenaussagen, Fachgutachten und das volle Geständnis des Angeklagten und andere Beweise wiesen
den Mord nach. Nach dem Niedergang der DDR erlangte Jablonski die Freiheit. Aber nicht nur das. Das Würzburger
Verwaltungsgericht sprach ihm 1996 wegen seiner in der DDR erlittenen Haft 36 000 DM als Haftentschädigung zu.
Was ist in der BRD eigentlich das Leben eines DDR-Grenzsoldaten wert? Der NVA Fahnenflüchtige Werner Weinhold
ermordete mit einer gestohlenen Maschinenpistole im Dezember 1975 die Grenzsoldaten Jürgen Lange und
Klaus-Peter Seidel.
Mir bleibt diese Mordtat fest im Gedächtnis, denn ich hatte den Auftrag, mit noch zwei weiteren Offizieren, den Eltern
von Klaus-Peter Seidel die Todesnachricht zu überbringen. Es waren die schwersten Stunden meiner 32 jährigen
Dienstzeit an der Grenze. Dem Doppelmörder Weinhold ging es darum, sich - nach ein paar Dutzend Straftaten, meist Kfz-
Diebstähle - einer weiteren drohenden gerichtlichen Bestrafung zu entziehen. Er wollte in der BRD endlich einmal "mit
einem richtigen Kfz fahren". Die Justizorgane der BRD lehnten das nach dem Völkerrecht Normalste von vornherein
kategorisch ab, nämlich den Verbrecher dorthin auszuliefern, wo er seine Tat begangen hatte. Obwohl die Zuständigkeit
eines DDR-Gerichtes zweifelsfrei auf der Hand lag, ordnete die Bonner Justiz ein eigenes Gerichtsverfahren an.
Weinhold wurde in Essen wegen des Verdachts auf Totschlag und nicht wegen Mord angeklagt.
Diese Gerichtsposse setzte sich fort, in dem das Gericht schließlich den Gewalttäter freisprach. Der Gewaltverbrecher
wurde vor dem Gerichtssaal mit Blumen empfangen.
Der Bundesgerichtshof hob dieses hohnsprechende Urteil auf. Ende 1978 kam es zu einem erneuten Verfahren vor der
1. Schwurgerichtskammer des Landgerichts Hagen. Letztlich wurde Weinhold am 1. Dezember 1978 zu einer wahrhaft
geringen Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren wegen Totschlags in zwei Fällen und Diebstahl mit Waffen verurteilt.
Der Hagener Staatsanwalt hatte auf Mord plädiert. Der Bundesgerichtshof wies eine beantragte Revision des Urteils ab.
Doch die Richter mussten anerkennen, dass die DDR-Seite einwandfreie Beweise zugearbeitet hatte und auch die
einwandfreie Schuld des Angeklagten festgestellt wurde. Die Bundesrichter räumten auch ein, dass das in Hagen
ausgesprochene Strafmass selbst für "Totschlag" eine absolute "Untergrenze" darstellte. Dann aber ließen sie die Katze
aus dem Sack. Sie erklärten, in ihren juristischen Erwägungen über die Strafzumessung hätten sie "Rechtsfehler" nicht
erkennen können, vielmehr müsse "der zeitgeschichtliche Zusammenhang zu einer Strafmilderung führen".
Auch hier die Frage, was war ein toter Grenzsoldat in der BRD wert?
Ein Nachsatz: Die "Recklinghäuser Zeitung" vom 12.1.2005 und die "Marler Zeitung" vom 25.6.2005 berichteten, dass
Weinhold wegen gefährlicher Körperverletzung vom Landgericht Essen für Schüsse aus einer Pistole auf einen Bekannten
in einer Gaststätte in Marl rechtskräftig verurteilt wurde.
Am 23. Juli 1982 verurteilte das Militärobergericht Leipzig den flüchtigen Deserteur Höhne wegen vorsätzlicher Tötung
des Angehörigen der Grenztruppen Feldwebel Klaus-Peter Braun zu lebenslänglichem Freiheitsentzug. Am 1. August
1981 hatte Höhne kaltblütig und ohne jedwede Hemmung den Feldwebel niedergeschossen und flüchtete nach dieser
Bluttat in die BRD.
Der Autor überzeugte sich damals als Prozessbeobachter von der akribischen Beweiserhebung durch Zeugenaussagen
kriminaltechnischen Gutachten, gerichtsmedizinischen Untersuchungen und einer fairen Verhandlungsführung.
Und wieder einmal stellten sich vor allem die meisten BRD-Medien vor den Täter. Man zeigte Verständnis, glaubte seinem
Gerede von einem "Gerangel" zwischen dem Feldwebel und ihm, wobei sich Schüsse lösten. Zweifelsfrei stellte das
Gericht der DDR fest, dass Höhne drei einzelne Schüsse auf sein Opfer abgab. Diese die vorsätzliche Tötung beweisende
Tatsache führte die Frage nach einem eventuellen Unfall ad absurdum.
Neben diesen Gewalttaten gab es darüber hinaus noch Fahnenfluchten, bei denen die Täter brutal, rücksichtslos und
meist heimtückisch ihren zweiten Mann handlungsunfähig machten. Während des Grenzsdienstes am 26.07.1986 gegen
15.40 Uhr im Abschnitt der Grenzkompanie Rückerswind, Grenzregiment Sonneberg, schlug der Soldat Lutz W. seinen
Postenführer, Unterfeldwebel G. mit dem Kolben der MPi auf dessen Kopf. Der Unterfeldwebel konnte den zweiten
Schlag abwehren, den Soldaten entwaffnen und festnehmen. Der Soldat W. gestand, dass er nach der Niederschlagung
des Postenführers in die BRD fahnenflüchtig werden wollte.
Der Angehörige der 12. Grenzkompanie Probstzella, Gefreiter Frank P. entwaffnete während des Grenzdienstes seinen
Posten Soldat M. Dann überkletterte er den Grenzzaun und wurde flüchtig. Die MPi des Postens fand man mit Magazin
aber ohne Schloss auf dem Kontrollstreifen und die Waffe des P. am Zaun an der Durchbruchsstelle.
Im Grenzabschnitt Trettau - Spechtsbrunn flüchtete am 06.10.1984 der Leutnant der Grenztruppen
Ralf M., eingesetzt als Kommandeur des Grenzabschnittes, in die BRD. Er fesselte den ihn begleitenden Unteroffizier im
Beobachtungsturm, überstieg den Grenzzaun, deponierte seine Waffe in der Zollhütte. Er verübte umfangreichen Verrat.
Von ihm stammten die maßgeblichsten Hinweise bezüglich der Umstellung der Grenzsperren - und des Sicherungssystems
im Bereich des Grenzregiments 15. So die Unterlagen vom BGS/Coburg.
Der Soldat Frank P. bedrohte während seines Dienstes an der Staatsgrenze am 05.12.1984 seinen Postenführer
Unteroffizier Steffen F. mit durchgeladener Waffe. Dann entwaffnete er ohne Widerstand den Unteroffizier. Der Soldat
lief mit beiden Waffen in Richtung der Grenzsäule 1792, überwand die geräumte Minensperre und flüchtete in die BRD.
Soldat P. war erst seit Ende Oktober in der 7. Grenzkompanie des Grenzregiments 3, Dermbach. Das Signal "Eilt zur Hilfe!"
schoss der Soldat Michael A. mittels Handleuchtzeichen am 29.01.1985 zwischen 20.00 Uhr und 21.00 Uhr vom
Territorium der BRD südwestlich von Lehesten in den Himmel. Dann gab er noch einen Feuerstoß aus seiner
Maschinenpistole in die Luft ab.Zuvor hatte er seinen Postenführer Unteroffizier Michael Sch. mit durchgeladener Waffen
gezwungen, seine MPi abzulegen. Dann wurde A. fahnenflüchtig.
In den Jahren der Existenz der Grenze fielen Grenzpolizisten und Grenzsoldaten feigen und brutalen Anschlägen zum
Opfer. Die Täter oder besser die mutmaßlichen Mörder waren, bis auf einen Fall, Angehörige des Grenzschutzorgans.
Auch darin kommt die ganze Tragik des Geschehens an dieser Grenze zum Ausdruck. Im Grund genommen basierte der
alltägliche Dienst an der Grenze in erster Linie auf Vertrauen. Wie schon gesagt, versahen in der Regel zwei Mann ihren
Dienst - Posten und Postenführer. Sie mussten sich fest aufeinander verlassen können. Misstrauen und Angst, waren
Gift für den Zusammenhalt der beiden Grenzsoldaten. Meist stundenlang auf sich allein gestellt, war das Postenpaar
für einen bestimmten Abschnitt oder einen Punkt voll verantwortlich, Tag und Nacht und bei jedem Wetter. Natürlich
handelte es sich bei den Grenzsoldaten um unterschiedliche Menschen. Sie waren Persönlichkeiten mit eigenen
Gedanken, Absichten und Erfahrungen. Sie besaßen ihre persönlichen Pläne für ihre Lebensgestaltung, kamen aus
unterschiedlichen Elternhäuser, ihre soziale Herkunft war verschieden und ihre Motive für diesen Dienst hatten
verschiedene Quellen. Sie einte - formal aber auch real - der Fahneneid und letztlich der Befehl, die Staatsgrenze
zuverlässig zu schützen und ihren Staat zu verteidigen. Die meisten wurden als Soldaten im Grundwehrdienst zur Fahne
gezogen. Einige von ihnen verfolgten von Anfang an die Absicht, bei der ersten sich bietenden Möglichkeit die Seiten
zu wechseln.
Unter den Soldaten auf Zeit, die sich mindestens für drei Jahre freiwillig zum Dienst verpflichteten, gab es auch welche,
die desertieren wollten. Und bei den Berufssoldaten - Unteroffiziere, Fähnriche und Offiziere - befanden sich einzelne
Verräter. Einige von diesen Tätern, die bereit und auch willens waren fahnenflüchtig zu werden, waren zu allem
entschlossen, einschließlich der verbrecherischen Absicht, ihre eigenen Kameraden zu töten. In keinem dieser Fälle lag
Notwehr oder versehentliches Töten vor. Was bewegte diese Täter wirklich, einen Menschen zu töten, um ihre
Absichten und eigensüchtige Ziele zu verwirklichen, auf die andere Seite zu wechseln. War es nur die verlockende
Aussicht, im "goldenen Westen" besser leben zu können, waren es wirklich politische Motive, das "ungeliebte Land" für
immer zu verlassen, aber um diesen Preis? Spielte da nicht auch abgrundtiefe Menschenverachtung eine Rolle, sich den
Weg freizuschießen? Oftmals waren es banale Gründe, die die Täter zu solchen Verbrechen trieben.
Welche Einflüsse steckten dahinter? Freizügigkeit um jeden Preis - auch der Preis eines Menschenlebens - War es der
"unaufhaltsame Drang" nach grenzenloser Freiheit? Und welche Freiheit? Es sind Fragen über Fragen. Die Antwort
darauf können nur die Täter selbst geben - aber ehrlich und aufrichtig. Das war und ist nicht zu erwarten. Eines steht
aber bei all diesen Fällen fest: Das Recht zu töten besaßen sie auf keinem Fall.
11 Opfer weist die Liste der von Fahnenflüchtigen getöteter Grenzsoldaten auf. Sie könnte auch noch länger sein, wenn
in den Fällen, wo Deserteure den zweiten Mann niederschlugen, fesselten oder entwaffneten, es anders gekommen
wäre. Was wäre denn passiert, hätte es bei diesen Straftaten energischen Widerstand gegeben.? Es war zu vermuten,
dass diese Verbrecher - darauf wiesen die Tatumstände hin - zu allem entschlossen waren, und einige von ihnen hätten
auch den Tod des anderen in Kauf genommen.
Es bleibt der unumstößliche Fakt, alle Täter verübten Verrat, wechselten die Seiten, "machten rüber", desertierten oder
wurden fahnenflüchtig. Man kann es sehen und auch beurteilen wie man will, aber nichts, rein gar nichts, rechtfertigt
die verbrecherische Tat, die Tötung ihres Kameraden oder Genossen.
In diesem Kontext ergibt sich die Frage, warum wurden in den späteren Jahren in der Bundesrepublik Deutschland
Prozesse gegen Fahnenflüchtige wie Jablonski, Weinhold oder Decker durchgeführt?
In den ersten Jahren konnte es sich die BRD und auch Westberlin leisten, die Täter straffrei ausgehen zu lassen, obwohl
das schon damals ein grober Rechtsverstoß war. Und das in einem sogenannten Rechtsstaat? Seit dem Jahre 1972
existierte aber der Grundlagenvertrag zwischen der DDR und der BRD und seit 1975 schließlich auch noch die Schlussakte
von Helsinki.
So konnten die Mächtigen in der BRD auf die Dauer nicht handeln, solche kriminelle Täter generell vor Strafe zu schützen.
Wenn die Straffreiheit dieser Täter in ihr politisches Kalkül passte und ihnen die Sympathie der Herrschenden gehörte,
der westdeutsche Staat und auch Westberlin mussten doch zumindest der Anschein der "Rechtsstaatlichkeit" wahren.
Das klingt zwar hart, war aber die Realität.
Dem internationalen Ansehen wäre es auch nicht gerade förderlich gewesen, wenn die Bundesrepublik die Täter nicht
ausliefert und diese auch noch vor Strafe bewahrt, zumal jedes dieser Verbrechen und die dazu geübte Rechtspraxis
international schon genug Aufsehen erregte. Bei bewusster Ignoranz der tatsächlichen Lage - zumindest seit 1972 - die
völkerrechtlich anerkannte Existenz zweier voneinander unabhängigere souveräner deutscher Staaten, maßte sich aber
die westdeutsche Justiz an, dennoch in Weiterführung des widerrechtlichen Alleinvertretungsanspruch, diese Straftaten
selbst zu ahnden.
Roman Grafe benannte in seinem Buch "Deutsche Gerechtigkeit", Siedler Verlag, München, 2004, Seite 264 - 267, zwei
Urteile, bundesrepublikanischer Gerichte. Zum einen, "Das Landgericht Schweinfurth verurteilte im Juli 1993 den
ehemaligen Major der Grenztruppen Paul Huck, sechzig Jahre alt, wegen Totschlags zu fünf Jahren und sechs Monaten
Haft. Er hat 1969 den neunzehnjährigen Soldaten Uwe Preußner, der beim Bau eines neuen Grenzzauns geflüchtet war
und sich auf einer Wiese auf fränkischem Boden zu verstecken suchte, mit einem gezielten Pistolenschuss in den Kopf
getötet.
Der BGH hebt den außergewöhnlich hohen Strafausspruch im Januar 1994 auf. Ein halbes Jahr darauf verurteilte
eine andere Strafkammer des Schweinfurther Landgerichts Paul Huck, der bis dahin fünfzehn Monate in
Untersuchungshaft gesessen hatte, wegen Totschlags in einem minder schweren Fall zu einer Haftstrafe von zwei Jahren
und vier Monaten. Dabei berücksichtigten die Richter strafmildernd, dass Herr Huck vor und nach der Tat `ein
rechtschaffenes Leben` geführt habe. Paul Huck war von 1954 bis 1990 bei den Grenztruppen."
Zum anderen, "Der NVA- Soldat Michael Kollender ist 21 Jahre und will in der Nacht des 25.April 1966 am Akeleiweg
(Treptow) nach Westberlin flüchten. Als er über den Sperrgraben springt, bemerkt ihn Gruppenführer Ernst R,: `Da läuft
einer!`ruft der 25 jährige Gefreite, nimmt seine Maschinenpistole und schießt mit Dauerfeuer sechzig Schuss auf den
Flüchtenden. Eine Kugel trifft Michael Kollender in den Kopf, als er über den Kontrollstreifen robbt. Zwei Stunden später
stirbt er. Stadtkommandant Helmut Poppe meldet an Erich Honecker , die Posten hätten richtig und konsequent gehandelt
und würden ausgezeichnet.
Im September 1995 wird der Lehrer Ernst R. im Landgericht Berlin vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen.
Fahnenflucht sei in jedem Staat der Welt strafbar, begründet Richterin Renate Möcke den Freispruch.
Der Bundesgerichtshof bestätigt das Urteil: Für den Grenzsoldaten sei es nicht offensichtlich gewesen, dass seine
Schüsse auf den Deserteur Unrecht waren."
Ein notwendiges Nachwort
Von Anfang an begleiteten Desertionen und Fahnenfluchten die Entwicklung und Geschichte der Grenzpolizei, der
Deutschen Grenzpolizei und der Grenztruppen der DDR. Diese schweren Vorkommnisse, diese Militärverbrechen waren
und sind kein Ruhmesblatt für das Grenzsicherungsorgan der DDR. Rechtfertigen kann man dieses Handeln nicht.
Diese Taten, die das Strafgesetzbuch der DDR als Verbrechen ahndete, können nur im Zusammenhang mit dem
gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch der sich im Osten Deutschlands vollzog, gewertet werden. Kurz gesagt, Ursachen
und Triebkräfte sowie Motive für Verrat, Desertion und Fahnenflucht waren vielfältig. Politische Konflikte und das
Nichtzurechtkommen mit den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, waren das eine, das andere waren, Teilhaben
am westdeutschen "Wirtschftswunder", familiäre und persönliche Widrigkeiten und reiner, blanker Egoismus.
Von Anfang an führten die fortschrittlichen und revolutionären gesellschaftlichen Kräfte in der damaligen sowjetischen
Besatzungszone und dann in der DDR einen harten, existentiellen Kampf gegen die reaktionären und revanchistischen
Umtriebe aus dem Westen Deutschlands.
Konterrevolutionäre im Osten unterstützten dieses feindliche Treiben. Der Kalte Krieg bestimmte die Ost/West
Auseinandersetzung und die jeweilige Politik beider Seiten, dem sich alle politischen, ökonomischen und militärischen
sowie kulturelle Potenzen Faktoren und Prozesse unterordnen mussten.
Ein Gedanke noch: Desertion aus einer imperialistischen Armee mit dem Motiv, sich der Teilnahme an Agressionskriegen und
Interventionen zu entziehen sind grundsätzlich anders zu bewerten, als Verrat und Fahnenflucht aus bewaffneten Organen,
die den Frieden sichern und schützen.
Inhalt Seite
Statt eines Vorwortes 2
Eigenes Erleben 3
Desertion - Fahnenflucht - Verrat 6
Nahezu eine halbe Million Grenzschützer der DDR 10
Schon in der ersten Zeit... 12
Ein ständiger Aderlass 15
Niederlagen und bittere Erfahrungen 16
Hauptkriterium der Wirksamkeit... 19
Ideologische Diversion 24
Auf den zweiten Mann kommt es an 26
Auch der RIAS meldete sich zu Wort 28
Fahnenflucht und Spionage 31
In den Fängen westlicher Geheimdienste 32
Ursachen und Motive für Desertionen 36
Viele Maßnahmen... 41
Das MfS war ständig dabei 44
Ein Gespenst geht um 47
"Verrat und Mord, sie hielten stets zusammen" 52
Literatur zum Thema
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