Von Z wie Zatopek bis fast A wie Aspirantur
Ein Porträtversuch für Wolfgang Herzig
Wie Wolfgang Herzig sich sein Rentnerleben früher vorstellte und es jetzt lebt, behält er lieber für sich. In seinem im
Verlag Dr. Köster erschienenen Buch „Offizier im Chemischen Dienst der NVA“ jedenfalls spart er diesen Lebensabschnitt aus.
Und auch seine Familie, seine Eltern und Geschwister, seine beiden Ehepartnerinnen (eine Ex und seine Derzeitige)
thematisiert der Autor mit keinen oder verhältnismäßig wenigen Zeilen. Gleiches gilt für enge Freunde, Kinder und, was ihm
zu wünschen ist, seine Enkel. Vielleicht ist ein Satz in Wolfgangs Nachdenken fast ganz zum Schluss seines Buches ein
Grund dafür, wenn er bezüglich seiner beruflichen Entwicklung festzustellen meint, dass dies nur „manchmal auch unter
Vernachlässigung der eigenen Familie“ ungestört verlaufen konnte. Wer Wolfgangs Buch liest und die zahlreichen
Dokumentenkopien und wiedergegebenen Fotos betrachtet, entdeckt einen Mann, der nach der Ernennung zum ersten
Offiziersdienstgrad hinter jedem seiner drei genannten erstrebenswerten Punkte seiner Laufbahn: „Besuch der
Militärakademie, möglichst in Moskau“, „Beginn und erfolgreicher Abschluss einer Aspirantur“ und „Erreichen des
Dienstgrades Oberst“ ein grünes Häkchen setzen wollte. Dass es ein langer Weg bis ganz oben sein kann, ist in
militärischen Kreisen normal. Das ahnte auch der Teenager Wolfgang aus dem Erzgebirgsstädtchen Olbernhau, als er
schon kurz vor seinem Abitur seine Bewerbungsunterlagen für ein Studium an der Offiziersschule, Fachrichtung
Chemische Dienste, nach Löbau schickte.
Geboren wurde Wolfgang 1947 als Sohn eines verletzt aus dem Kriege heimkehrenden Schweitzers, der seinen erlernten
Beruf nicht mehr ausüben konnte. Seine Mutter besserte durch ihre Heimarbeit die manchmal magere Familienkasse auf.
Schon als Zwölfjähriger versuchte er zusammen mit Freunden Schwarzpulver herzustellen, eine Luftpumpe zur Rakete
zu adeln und, mit diesem Explosivstoff vollgestopft, zu zünden. In der 12. Klasse lieh er sich Bücher über Quantenphysik
aus. Immer in Bewegung sei Wolfgang gewesen, dem seine Freunde den Spitznamen Zatopek gaben, gute
Auffassungsgabe hatte er, wie seine Zeugnisse aussagen, auch vorlaut, wie sich seine Lehrer erinnern. Pädagoge wollte
er werden, doch die angebotenen Fächer-Kombinationen gefielen ihm nicht. Und wieder war es ein Buch, das ihm
bei der Suche nach einer Alternative half, diesmal nahezu lebenslang. Der militärische Studienführer bot ein
dreijähriges Studium an der Offiziersschule an. Zunächst mit der Vermutung, danach einen leichteren Ein- oder auch
Umstieg zu haben, erwies sich seine Zulassung zum Studium als Beginn eines militärisch geprägten Berufslebens. Heute
nach dem Warum gefragt, kurzes nachdenkliches Überlegen: „Die Überzeugung, dass die gesellschaftliche Entwicklung
die richtige war“ nennt er, ein bisschen Abenteuerlust, und sein Wunsch zur schnellen finanziellen Unabhängigkeit. Um
gleich danach seine damals natürlich noch nicht ausgereifte gesellschaftspolitische Haltung als einen Grund für seine schon
in der neunten Klasse eingegangenen Verpflichtung zu vermuten. Aus dem Offiziersschüler wurde nach Studienabschluss
der Ingenieur für Labortechnik, aus dem Oberoffizier Chemische Dienste der Oberoffizier materiell-technische
Sicherstellung. Dabei nicht zu vergessen seine Tätigkeiten als FDJ- und auch als Parteisekretär. Sein anfangs
genannter Wunsch „Besuch der Militärakademie, und das möglichst in Moskau“ erfüllte sich, die Beförderungen zum
Oberoffizier operative Arbeit, zum Leiter Chemische Dienste und zum Leiter des Lehrstuhls „Taktik der chemischen
Truppen“ ließen nicht lange auf sich warten. An ein Entwicklungsende habe er damals, 1988, gar nicht denken
können. Im Gegenteil, stand doch der Punkt „Beginn und erfolgreicher Abschluss einer Aspirantur“ noch ergebnisoffen
auf seiner Agenda. Ein weiterer wissenschaftlicher Grad mit dem Thema „Zu Problemen des Umweltschutzes auf
militärischen Übungsplätzen“ sollte es sein, für die Herzig im September 1988 die Anfangsgründe legte. Als er dafür
noch einmal einen höheren akademischen Kurs in Moskau belegte, stellte er Erstaunliches fest: „Die politische
Einstellung der sowjetischen Offiziere hatte sich ziemlich verändert (…) entsprach (…) sozialdemokratischen
Ansichten“. Nicht Marx sondern Heidegger war der nachgefragteste Philosoph, der Begriff „deutsche Stabskultur“
fiel. Zwar irritiert von den veränderten Einstellungen und trotz aller Teilnahme am Geschehen zu Hause scheint
Herzig der Anfang vom Ende der DDR eher überrascht zu haben. Obwohl die Nacht der Grenzöffnung dank besonnener
Haltung der Grenztruppen glimpflich ablief, „…hatten wieder die Soldaten die Unfähigkeit der Politiker auszubaden“.
Zunächst planmäßig und geordnet, folgte bald das Abschiednehmen von Vertrautem und Vertrauten, Neuorientierung
sowohl in übergangsweise militärischen, technischen als auch in zivilen Bereichen nach 25 Jahren militärischer Dienst war
erforderlich. Enttäuschungen über Ungleichbehandlungen, Nichtanerkennung erzielter Qualifikationen und Abschlüsse,
überraschenden Sinneswandel einst Vertrauter folgten vor allem aber Nachdenken. Nachdenken über eigene Fehler, Fehler
in der Offiziersausbildung der DDR, über den Sinn von Massenvernichtungswaffen in Europa allgemein. Wolfgang Herzig
zieht ein, sein, überzeugtes Resümee: „Meine wichtigste Erkenntnis ist, dass ich keinen Tag meiner Dienstzeit missen
möchte. Natürlich (…) gab es Momente, wo man am liebsten alles hingeworfen hätte. Aber der entscheidende Punkt ist
doch, dass ich meine Tätigkeit immer mit vollem Einsatz ausgeübt habe…“ Wolfgang Herzigs Buch zeigt einen Mann, dem
trotz oder gerade wegen seiner erfolgsorientierten Entwicklung, späterer skeptischer und auch nachdenklicher Lebenssicht
ein Credo für Geradlinigkeit bleibt. Ist das alles? Diese Frage lässt natürlich auch eine Antwort zu: die Antwort durch
seine Familie, die zu ihm hielt und hält. Sie gegen die Welt, ist das nicht das Äußerste, was zum Schluss zählt?
Eine Betrachtung einer ehemalige Klassenkameradin