Buchbesprechung

Gerhard Feldbauer: Ralph Rudolf / Uwe Markus

  Die verratene Armee.Eine neue Publikation über das Ende der Nationalen Volksarmee der DDR

(Unwesentlich gekürzt)

 

 

Unter dem Titel "Die verratene Armee" haben zwei Insider, Ralph Rudolf und Uwe Mark- us, im Berliner Phalanx Verlag in der Edition Militärgeschichte und Sicherheitspolitik eine Publikation zum Ende der Nationalen Volksarmee der DDR veröffentlicht.

Zu den im Verlagstext vorgestellten Autoren heißt es: Rudolf, Jg.1938, Oberst a.D. und Diplom-Ing., studierte am Institut für Luft- und Raumfahrt in Moskau, war langjähriger Betriebsdirektor des Raketeninstandsetzungswerkes Pinnow, danach Abteilungsleiter für spezielle Produktion (Rüstungsproduktion) im Ministerium für Allgemeinen Maschinen- Landmaschinen- und Fahrzeugbau, 1990 Abteilungsleiter für technische Abrüstung im Ministerium für Abrüstung und Verteidigung, schließlich Unternehmensberater für ein Schweizer Consultingunternehmen mit Arbeitsschwerpunkt Rüstungskonversion.

Markus, Jg. 1958, promovierter Soziologe, war bis 1990 am Institut für Sozialwissenschaftliche Studien in Berlin tätig, seither arbeitet er als Marktforscher, Marketingberater und Dozent. Seinen Militärdienst leistete der Oberleutnant a.D. als Zugführer eines Panzerzuges in der 9. NVA-Panzerdivision.

Die Autoren vermitteln umfangreiche Informationen zur Rolle der NVA in der letzten Etappe der Existenz der DDR, die bisher weitgehend nur Insidern bekannt sind, so auch zur hochmodernen, konventionellen Ausrüstung und ihrer qualifizierten Beherrschung durch Soldaten und Offiziere. Schon das dürfte einen breiten Kreis interessierterer Leser ansprechen.
Die Verfasser verdeutlichen den gesellschafts-politischen Hintergrund der Entwicklung 1989/1990, der durch folgende Faktoren charakterisiert wurde:

Der Übergang Gorbatschows auf sozialdemokratische Positionen und sein Verrat am Sozialismus und an den Mitgliedern des Warschauer Vertrages wirkten sich verheerend aus, darunter auf die DDR als den engsten Verbündetet.

Orientiert auf Gorbatschow riss mit Gregor Gysi an der Spitze eine revisionistische Gruppe in einem Parteiputsch die Führung der SED an sich und leitete deren Umwandlung in eine nichtkommunistische sozialdemokratisch orientierte "Partei des demokratischen Sozialismus" ein (aus der die heutige Partei "Die Linke" hervorging).

Ihr bis März 1990 amtierender Ministerpräsident Hans Modrow wich angesichts der Haltung Moskaus vor dem wachsenden Druck der Bundesregierung unter Kanzler Kohl zurück.

Die unter mysteriösen Umständen am 9. November geöffnete Grenze nach Westberlin wie danach zur Bundesrepublik wurde nicht mehr kontrolliert, was der Konterrevolution Tür und Tor öffnete.

Im Todeskampf,der für die DDR begann, wäre eine Staatssicherheit dringend erforderlich gewesen. Stattdessen löste Modrow das Ministerium für Staatssicherheit auf und verzichtet auf Forderung des "Runden Tisches",der objektiv und von den meisten seiner Teilnehmer her auch subjektiv konterrevolutionäre Positionen vertrat, auf ein geplantes Amt für Nationale Sicherheit.

Parallel zur Liquidierung der Sicherheitsstrukturen wurden die SED-Basisorganisationen in den Betrieben beseitigt, die Kampfgruppen aufgelöst und die NVA ruhiggestellt bzw. durch erste Generalsverhaftungen eingeschüchtert.

Ähnlich wurde in der NVA mit der Beseitigung der Parteistrukturen der SED verfahren, der die Auflösung der Politabteilungen folgte. Das erwies sich, halten die Autoren fest, "angesichts noch wenig ausgereifter Vorstellungen über Inhalte und Strukturen der staatsbürgerlichen Arbeit als Auftakt nicht nur die Entpolitisierung der Armee, sondern auch für die Zerstörung der historisch gewachsenen politischen Identität vor allem des Offizierskorps."

Die Modrow-Regierung ließ zu, dass in der NVA auf allen Ebenen mit dem Oppositionsgremium des "Runden Tisches" zusammengearbeitet und diesem ein Mitspracherecht über die die Armee betreffenden Reformen eingeräumt wurde, womit - wie auf der Regierungsebene - auch in der Armee eine "Doppelherrschaft" installiert wurde.

Hier wie an anderen Stellen sprechen die Autoren Klartext, wenn sie festhalten: "Es dürfte ein historisches Novum sein, dass eine Armeeführung, die verfassungsrechtlich ausschließlich der noch amtierenden Regierung unterstand, freiwillig militärpolitische Konzeptionen mit oppositionellen Kräften diskutierte, die teilweise eben die Streitkräfte ausschalten wollten", und "die neuen Gesprächspartner wollten unverkennbar Macht und versuchten ihr Gremium als Instanz mit politischer Weisungsbefugnis zu etablieren."

Im Ministerium der NVA war "die Neigung ausgeprägt, sich im vorauseilenden Gehorsam den Forderungen der verschiedenen Interessengruppen und Parteien auf der politischen Bühne des Landes" anzupassen.

Unter dem gezielten Einfluss der Opposition brachen im Januar 1990 in 40 Kasernen bzw. Truppenteilen der NVA Soldatenstreik aus und in einigen Dienststellen wurden Soldatenräte gebildet, die den Straftatbestand der Meuterei erfüllte. (§ 259 Strafgesetzbuch der DDR /Militärstraftaten).

Der Minister, Admiral Theodor Hoffmann, begab sich zu einer Versammlung der Streikenden in Beelitz und stimmte ihren Forderungen im Wesentlichen zu. Die Forderungen von Kommandeuren, das Fallschirmjägerbataillon gegen die Meuterer einzusetzen, lehnte er ab, da er das, wie er begründete, "für altes Denken" hielt und er damit den "friedlichen Charakter der Wende in der NVA verletzt" hätte.

Die Autoren verdeutlichen auch, dass die DDR, als sie von Gorbatschow fallen gelassen wurde, den wichtigsten außen- und militärpolitischen Faktor ihrer Existenzsicherung verlor, und sie damit nicht mehr zu retten war.

Doch ihr Anschluss an die BRD hätte nicht in jene kampf- und bedingungslose Kapitulation münden müssen, die von der letzten DDR-Regierung unter De Maiziere vollzogen wurde, aber bereits unter der Regierung Modrow und der PDS unter Gysi einsetzte.

Die Autoren treffen hier eine Kernaussage: "In dem Maße, wie die staatlichen Strukturen sukzessive zerstört und die verfassungsrechtlichen Grundlagen der DDR mit kräftiger Unterstützung von außen in Frage gestellt wurden, wäre es Aufgabe der politisch Verantwortlichen gewesen, der Armee eine aktive Rolle bei der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung zuzuweisen, statt sie durch Stillhaltebefehle als Machtfaktor zu paralysieren."

Das wäre "kein Staatsstreich gewesen", sondern hätte. so Markus/Rudolph weiter, "mit hoher Wahrscheinlichkeit viele erhitzte Gemüter beruhigt und zur Relativierung radikaler Machtambitionen mancher Oppositionspolitiker beigetragen.

Außerdem hätte ein solches Statement der Militärführung all jenen DDR-Bürgern den Rücken gestärkt, die für ihr Land eine sozialistische Perspektive befürworteten."
Ausführlich wird auf die Situation im Spätherbst in der DDR eingegangen, in der sich die Unzufriedenheit eines Teils der DDR-Bürger mit ihrem Staat und seiner Führung in Protestdemonstrationen äußerte und sich die Frage stellte, die NVA gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen.

Die DDR-Führung wurde in dieser Situation Opfer ihrer eigenen Propaganda, die immer von sich gab, das "ganze Volk" stehe hinter ihr.

Völlig übersehen wurde hier, dass in den Klassenkämpfen der Jahrhunderte es den Ausbeutern und Unterdrückern immer gelang, Teile des Volkes für ihre Interessen zu missbrauchen. Das hätte stärker herausgearbeitet werden können.

So auch, dass auf diese Proteste der Gegner , in vorderster Linie die USA mit ihrem Headquarter CIA in Westberlin, massiv Einfluss nahm. In Washington hatte man frühzeitig erkannt, dass der "Verkauf" der DDR durch Gorbatschow an die Bundesrepublik beschlossenen Sache wurde.

Monate bevor die Unruhen in der DDR ausbrachen, schickten die USA ihren wichtigsten Mann der CIA, Drei-Sterne-General Vernon A.Walters, bereits im April 1989 als Botschafter getarnt nach Bonn, um auf diese Prozesse Einfluss zu nehmen. Wie Walters in seinem Buch "Die Vereinigung war voraussehbar" (Siedler-Verlag1994) offenbarte, habe ihm Präsident Bush
(Senior) klar gesagt, dass es darum gehe, den Hauptstoß gegen die DDR zu führen, um"dem sowjetischen Sicherheitssystem das Herz herauszureißen".
War es im Spätherbst 1989 gerechtfertigt, die NVA nicht gegen Proteste einzusetzen, so stand diese Frage , wie die Autoren verdeutlichen, spätesten nach dem Amtsantritt der Regierung Lothar De Maiziere anders.

Markus/Rudolph widmen sich der bis heute nicht untersuchten Frage, ob und welche Möglichkeiten es im Militärbereich gab, dem nun massiv einsetzenden Vormarsch der Konterrevolution entgegenzutreten und ihn aufzuhalten und gehen auch auf die Frage ein, ob die Militärs der DDR einen Putsch gewagt hätten.

Immerhin standen für den "Tag X" in der DDR bereit: 365 000 Mann der Westgruppe der Sowjetarmee, 172 000 Man der NVA( Grenztruppen), Volkspolizei und Staatssicherheit mit je 90 000 Mann Bewaffneter und ( bevor sie aufgelöst wurden) 400 000 Mann der Betriebskampfgruppen.

Der Innenminister De Maiziere, Peter Michael Distel, äußerte später, dass die Uniformträger gezielt mit Zuversicht geradezu zugepflastert wurden, um das zu verhindern und gab zu: "Wenn man ihnen von vornherein gesagt hätte, liebe Freunde, ihr müsst jetzt eure Waffen abgeben, und mit dem Beitritt (zur BRD) werdet ihr dann völkerrechtlich diskriminiert, werdet straf verfolgt, werdet auch in der öffentlichen Bewertung deklassiert, dann hätte es den Putsch gegeben."

Markus/Rudolph schlussfolgern: "Gegen den Widerstand einer strategisch denkenden und entschlossen auftretenden NVA-Militärführung, die sich aus dem politischen Entscheidungsprozess nicht hätte verdrängen lassen, wäre die Durchsetzung der in Bonn erdachten Auflösungsstratgie nicht möglich gewesen."

Unter anderem äußern sich die Autoren zur Rolle des letzten Dienstherren der NVA, dem früheren Pfarrer Rainer Eppelmann, der sich Minister für Abrüstung und Verteidigung nannte und dessen Heuchelei keinerlei Widerstand entgegen gesetzt wurde.

Die Generalität fand sich unter dem neuen NVA-Chef, Admiral Theodor Hoffmann, auch damit ab, dass mit Ausnahme der ersten Beratung, "keine Vertreter der Militärführung bei den Verhandlungen der die NVA betreffenden Teile des Einigungsvertrages zugegen" waren. "Und Generale gehorchten."

Allerdings meinen die Verfasser, Eppelmann könnte eine Zeit lang selbst an die von ihm verbreiteten Illusionen von der Existenz zweier Armeen im "vereinigten Deutschland" geglaubt haben. Wie weit das das zutreffen könnte, muss hier dahin gestellt bleiben.

Fest steht,das Eppelmann als ein übler Heuchler agierte, was soweit ging, die NVA als "Machtinstrument des stalinistischen Unrechtsregime der SED" zu diffamieren, sie am 20. Juli 1990 den Eid für den Schutz der Deutschen Demokratischen Republik schwören zu lassen.

Nachsprechend lautet der Schlusssatz" "Ich schwöre, meine ganze Kraft zur Erhaltung des Friedens und zum Schutz der Deutschen Demokratischen Republik einzusetzen."

Hier hätte es also eine auch rechtliche Grundlage gegeben, seitens der NVA gegen die Einverleibung der DDR durch die BRD Widerstand zu leisten.
Der Journalist der "jungen Welt", Peter Wolters, der als Aufklärer der HVA selbst zu seinen Überzeugungen mutig bis zum bitteren Ende und auch im Gefängnis der Klassenjustiz gestanden hat, stellte die Kernfrage:

"Objektiv gesehen war der Anschluss der DDR eine Konterrevolution - hätte die NVA sich ihr nicht entgegen stellen müssen" und fragte: "wie hat sich die politische Führung verhalten?" (jW. 2. Dezember 2013).

Markus/Rudolph schätzen ein, "dass die noch in Amt und Würden befindliche Führungsspitze der NVA den Herausforderungen der System- und Staatskrise nicht gewachsen war".

Das Verhalten einiger ihrer Generäle und Admiräle mit Theodor Hoffmann an der Spitze - Ende September 1990 waren das noch 24 - ging so weit, dass sie selbst bereit waren, in den Dienst der Bundeswehr, nachgewiesener Maßen seit ihrer Geburtsstunde als eine Aggressionsarmee des deutschen Imperialismus aufgebaut, zu wechseln.

Ein angefügter Beitrag des Oberstleutnants Ingo Höhmann, Jg.1953, 1989/90 Kommandeur eines Mot.-Schützenbataillons, belegt, dass es durchaus genügend Offiziere und Soldaten gab, die bereit waren, die DDR zu verteidigen.

Er schreibt: "Es gab offensichtlich bei jenen DDR-Bürgern, die noch loyal zu ihrem Staat standen, die Hoffnung, dass die Armee sich der völligen Auflösung der staatlichen und politischen Ordnung entgegenstellt. Das war in meinen Augen eine Legitimation für eine stabilisierendes Eingreifen der Streitkräfte.

Die DDR Regierung hätte in der damaligen Situation jedes Recht der Welt gehabt, den Ausnahmezustand auszurufen." Leute wie Höhmann wurden jedoch in Stich gelassen und wie der Titeln des Buches aussagt, verraten...
Markus/Rudolph leisten mit ihrer souveränen Abhandlung einen gelungenen und tiefgehenden Beitrag zu einer noch ausstehenden Gesamtanalyse der Rolle der NVA in der letzten Phase der Existenz der DDR.

Es ist zu wünschen, dass ihr Buch dazu Anlass gibt.
(aus offensiv Zeitschrift für Sozialismus und Frieden 7/2014)

Gerhard Feldbauer war langjähriger Korrespondent der DDR in Italien und ist heute als Publizist tätig - Tageszeitung "junge Welt", "offensiv" und andere linke Publikationen.

 

PS.: Die Grenzsoldaten und die Angehörigen der Passkontrolle des MfS waren an der Staatsgrenze in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 ganz auf sich allein gestellt. Entsprechend der angespannten Lage öffneten sie die Grenzübergangsstellen zu Westberlin und zur BRD. Die politische und militärische Führung hatte sie in Stich gelassen!
Es fiel kein Schuss!
Eine Gesamtanalyse der Lage an der Staatsgrenze 1989/90 liegt nicht vor und die Geschichte der Grenztruppen der DDR ist noch nicht geschrieben.